Der antisemitische Beißreflex

Werte Leserinnen und Leser,

wie jeder Artikel über Antisemtismus könnte auch dieser mit der Erklärung beginnen, wie schwierig es in Deutschland ist, über Antisemitismus zu schreiben. Ich möchte Ihnen diese Einführung ersparen – lesen Sie dazu in der Tagespresse die ersten Absätze der aktuellen, einschlägigen Berichte.

Ich schreibe gar nicht über Antisemitismus, sondern über die aktuelle Lage in Nahost und ihre Auswirkungen, die bis hier nach Berlin schwappen. Da demonstrieren einige hundert Freunde der Palästinenser und skandieren dabei antisemitische Sprüche – klar, dass so etwas in Deutschland nur sehr schwer zu ertragen ist. Und tatsächlich hat der Berliner Innensenator angekündigt, zukünftig keine antisemitischen Parolen auf Demos mehr zu dulden. Gut so. Man kann auch gegen die israelische Politik sein, ohne Juden zu beleidigen oder gar zu bedrohen, wie es offenbar hier in Berlin geschehen ist.

Damit wären wir beim Punkt: Israel und noch mehr die israelische Politik sind nicht gleichzusetzen mit dem jüdischen Glauben und jenen, die sich damit identifizieren. Was viele der Protestler vielleicht überraschen mag: auch viele Juden kritisieren den Weg, den die israelische Regierung eingeschlagen hat – sogar einige Israelis tun das.

Offenbar machen aber gerade jene, die nun pauschal „Antisemitismus“ rufen, sobald man auch Mitleid für die ermordeten Palästinenser empfindet (und nicht bloß für die Absturzopfer von MH17), genau den Fehler, den sie ihren Gegnern vorwerfen: sie differenzieren nicht zwischen dem israelischen Staat und seiner Regierung einerseits und den Juden als Glaubensgemeinschaft andererseits. Eine wie auch immer gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Kritik an der Palästina-Politik Israels führt sogleich zum Hervorholen der Antisemitismus-Keule. Die FAZ befürchtet sogar das Entstehen einer neuen „antisemitischen Koalition“ zwischen Neonazis und Islamisten.

Wir können nicht erwarten, dass die israelische Regierung Kritik von außen annimmt. Unsere Bundeskanzlerin hat sich deshalb gleich auf die Seite der israelischen Regierung geschlagen, was – mit Verlaub – in einem derart verfahrenen Konflikt eine Dummheit ist, weil man sich damit als möglicher Helfer bei einer Schlichtung disqualifiziert. Aber wie wir Frau Merkel kennen, wählt sie den weg mit den größten Erfolgsaussichten – und das ist nunmal der des Status Quo. Nach ein paar weiteren Bomben und Raketen werden beide Seiten den nächsten brüchigen Waffenstillstand schließen, und niemand muss sich bewegen. Wer Kritik nicht annimmt, wird sich auch nicht verändern wollen.

Die israelische Regierung kann aber nicht erwarten, dass wir – selbst wenn wir in ehemals nationalsozialistisch verseuchten Ländern leben – unsere Meinung zum Vorgehen in Nahost für uns behalten – genauso wenig wie zu Russland, zur Ukraine und zur Türkei, in der derzeit weit üblere und echte antisemitische Auswüchse unter Oberaufsicht von Erdogan zu beobachten sind.

Also, liebe Leute: Kritik an Israels Palästinapolitik ist kein Antisemitismus, sondern das wahrgenommene Recht, überall in der Welt – auch daheim – auf Missstände hinzuweisen. Und sofern man keine rosa Brille trägt, darf Israel da keine Ausnahme sein. Ein Recht auf Selbstverteidigung rechtfertigt nämlich nicht die Tötung Hunderter Unschuldiger – genausowenig wie das Recht auf einen eigenen Staat letztlich die Ermordung von vier halberwachsenen Kindern rechtfertigt.

Etwas weniger Beißreflex könnte nicht schaden, denn er verhindert eine rationale Diskussion. Eine Lösung des Nahostkonflikts ist von den derzeitigen Konfliktparteien sowieso nicht zu erwarten, denn sie sind beide seine Kinder, nicht seine Ursache.

Und als nächstes packen wir dann das Märchen vom Antiamerikanismus an.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

 

 

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