Feigheit vor dem Leser

Werte Leserinnen und Leser,.

dieser Tage erleben wir den Abschied vieler Online-Medien von etwas, das Journalisten und Leser enger zusammenbringen sollte: die Kommentarfunktion unter online gestellten Artikeln. Nachdem der SPIEGEL schon Anfang des Jahres jegliche Kommentierbarkeit seiner Artikel eingestellt hatte und die ZEIT für die meisten ihrer Artikel nur noch vormoderierte und damit zeitverzögerte Kommentare zulässt, hat sich nun auch die FAZ entschieden, die Kommentarfunktion für die meisten ihrer Artikel abzuschalten. Was geblieben ist, ist eine Handvoll ausgesuchter Artikel, die möglichst kein Erregungspotenzial besitzen.

Die FAZ erklärt uns das in einem eigenen Artikel so:

In den rund 3000 täglichen Kommentaren stoßen wir vermehrt auf Beleidigungen und Diffamierungen. Der Ton in den Diskussionen ist rauer geworden, und wir haben Beschwerden sowohl von unseren Leserinnen und Lesern als auch von unseren Autorinnen und Autoren erhalten, wenn wir nicht intervenieren.

Nun ist es ein bekanntes Phänomen, dass Leserkommentarbereiche auch oder gerade jene anziehen, die eine extreme Meinung haben. Dafür gibt es das Hausrecht – die Zeitungen dürfen jeden Kommentar, der ihnen nicht passt, kommentarlos entfernen oder erst gar nicht veröffentlichen. Das ist schon seit der Zeit der Leserbriefe so.

Was diesen Absatz so spannend macht, ist dieser Teil:

auch von unseren Autorinnen und Autoren

Ich persönlich ging bis heute davon aus, dass Leserkommentare von den Autoren nicht gelesen werden. Offenbar ist das bei der FAZ anders, und ebenso offenbar kommen die Autoren mit Kritik nicht klar. Denn – ja – es werden Beleidigungen und Diffamierungen geschrieben, aber die FAZ moderiert schon seit eher im Voraus, kann also solche Kommentare und ihre Schreiber jederzeit vorher aussortieren. Und es darf bezweifelt werden, dass die Autoren von aussortierten Beleidigungen Kenntnis erlangen.

Die FAZ hat allerdings einige Autoren, die selbst gerne weit über das hinausgehen, was den Lesern an Deutlichkeit erlaubt ist, ohne dass die Moderation einschreitet. Da ist zum einen Jasper von Altenbockum, dessen CDU-Hörigkeit aus fast jedem seiner Kommentare tropft. Was gut ist für die CDU, wird gelobt, alles andere heruntergeschrieben. Wenn die Leser diese allzu offensichtliche Parteinahme kritisieren, ist das natürlich kein Fall für Moderation. Und seine mehrfach geäußerte Homophobie fordert natürlich auch Kritik heraus, die man als Moderation nicht einfach unter den Tisch fallen lassen kann:

Nachdem der ehemalige Fußballnationalspieler Thomas Hitzlsperger 2014 seine Homosexualität offenbart hatte, verfasste von Altenbockum einen Kommentar, in dem er die sich daraus entwickelnde Debatte als „Rocky Horror Hitzlsperger Show“ bezeichnete und Kritik an Homophobie in Deutschland als völlig übertrieben bezeichnete. Der Kommentar schloss mit den Worten „Es sollte nicht so weit kommen, dass Mut dazu gehört zu sagen: »Ich bin heterosexuell, und das ist auch gut so.«“

Von Altenbockum geriet im Juni 2019 in die Kritik, als er auf Twitter ein Video eines als islamistisch und homophob geltenden YouTube-Kanals verbreitete. In dem Video werden Verschwörungstheorien über den YouTuber Rezo verbreitet, die sich unter anderem mit dessen Unabhängigkeit beschäftigen. Von Altenbockum versah seinen Tweet mit einer Unterstellung gegenüber dem YouTuber Rezo, dieser würde Werbung für den Werbekonzern Ströer betreiben. Nach massiver Kritik löschte von Altenbockum den Tweet und entschuldigte sich für die „missverständliche Formulierung“. [Quelle: wikipedia]

Zum zweiten ist da Reinhard Müller, dem der Rechtstaat so sehr über alles geht, dass er dabei vergisst, dass es Menschen waren, die ihn geschaffen haben. Er ist ein überdeutlicher Fan der allgemeinen Massenüberwachung, denn sie hilft ja, wirklich jeden Straftäter dingfest zu machen. Und seine Position gegen LGBTQI+ ist legendär:

In verschiedenen Artikeln in der FAZ wendet sich Müller gegen die Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare, ein gemeinschaftliches Adoptionsrecht für homosexuelle Paare[1] und gegen die rechtliche Elternstellung von homosexuellen, verpartnerten Paaren nach einer Leihmutterschaft in den Vereinigten Staaten. [Quelle: wikipedia]

Auch hier ist vielfach geäußerte substanzielle Kritik kein Grund für ein Einschreiten der Moderation.

Zum dritten ist da Michael Hanfeld, der anders als seine beuiden Kollegen für den Feuilleton schreibt und dort seine Liebe für den fragwürdigen Journalisten Julian Reichelt (Ex-BILD) und seinen Hass auf den ÖRR kultiviert. Er ist ein großer Fan des Leistungsschutzrechts für Presseverleger, weshalb seine diesbezüglichen Artikel immer wieder alles kritisieren, was einen Erfolg dieses fragwürdigen Rechts infragestellen könnte.

Hanfeld sprach sich in mehreren Artikeln der FAZ für das Leistungsschutzrecht für Presseverleger auf EU-Ebene aus. Der Blogger Stefan Niggemeier bezeichnete die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Behauptungen und Argumente Hanfelds als „offensichtlich falsch“ und schlussfolgerte eine „Radikalität der Verlage beim Durchsetzen der eigenen Interessen“, die „keine Grenzen“ kenne.

Hanfeld setzte sich in seiner Berichterstattung zur Urheberrechtsreform der Europäischen Union in einer Reihe von Artikeln für die vorgeschlagene Reform ein, damit sichergestellt sei, „dass Kreative und Urheber einen Lohn für die Verwertung ihrer Werke bekommen“. Hanfeld vertritt damit die Ansicht des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), sowie über 240 europäischer Verbände, die Autoren, Komponisten, Schriftsteller, Journalisten und Fotografen vertreten. Seine Haltung wurde von zahlreichen Gegnern der Reform kritisiert.[Quelle: wikipedia]

Seine ÖRR-bezogenen Artikel folgen immer demselben Schema. Zunächst wird ein kritikwürdiger Einzelfall präsentiert. Dann wird geargwöhnt, dass der ÖRR insgesamt betroffen sein könnte. Bei Reichelt ist es umgekehrt – er wird verteidigt, und seien die Vorwürfe gegen ihn (und derer gibt es viele) auch noch so offensichtlich. So wähnte Hanfeld die Pressefreiheit in Gefahr, weil Reichelt seine schmutzigen Geheimnisse dem Berliner Verleger Holger Friedrich erzählt hatte – und dieser sogleich alles Matthias Döpfner, Reichelts Ex-Chef bei Springer, weitererzählt hatte. Dass die Gerichte darin einen rechtlich einwandfreien Schritt Friedrichs sagen, focht Hanfeld nicht an, weiterhin Kritik zu üben, diesmal auch an den Urteilen.

Zurück zur Frage der Kommentierbarkeit. Alle drei Autoren haben sich bereits vor Wochen von der Kommentierbarkeit ihrer Kommentare verabschiedet. Dafür kann es mehrere Gründe geben, von denen ich zwei nennen möchte:

  • Meine Artikel werden kommentiert von Leuten, deren Beiträge unflätig, beleidigend und diffamierend sind. Das schmälert die Nutzbarkeit des Kommentarbereichs.
  • Meine Artikel werden kommentiert von Leuten, die nicht meiner Meinung sind. Das schmälert meine Argumente.

Sollte ich wetten, würde ich mein Geld bei allen dreien eher auf den zweiten Punkt setzen. Das könnte man dann auch Feigheit vor dem Leser nennen.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

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Unser fragwürdiges Staatsverständnis

Werte Leserinnen und Leser,

anlässlich des Terrorangriffs der Hamas auf israelische Bürger und seiner Folgen führen wir gerade eine Debatte über Asyl- und Strafrecht. Es geht dabei um die Frage, wer in Deutschland weswegen demonstrieren darf und was auf Demonstrationen erlaubt ist. Es geht dabei auch um die Frage, ob durch Flüchtende oder Asylsuchende Antisemitismus importiert wird – und wie man das verhindern kann.

Zuallerst: Deutschland ist ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat. Der Staat wird hierzulande durch die „Grungesetz“ genannte Verfassung eingehegt. Dort ist beschrieben, welche Grundrechte die Bürger gegenüber dem Staat haben. es ist dort auch grundsätzlich beschrieben, welche Staatsform Deutschland hat. Hinzufügen kann man noch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die sich in einzelnen Artikeln widerspiegelt, aber an einigen Stellen noch über das GG hinausgeht. Sie gilt seit 2009.

Und hier beginnt oftmals schon das erste Missverständnis. Das GG definiert nicht, wie von vielen falsch gesehen, Regeln für das Zusammenleben der Menschen untereinander. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit erlaubt es sogar den Bürgern, das GG oder Teile davon abzulehnen. Wäre es nicht so, dann müssten bereits heute die Reichsbürger sowie viele NPD- und AfD-Mitglieder in Haft sitzen. Es ist aber gerade das Merkmal eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, dass er seinen Bürgern keine staatstragenden Meinungen abverlangt. Artikel 1.2 ist sehr deutlich: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Dort steht nichts vom einzelnen Bürger.

Da das GG an vielen Stellen entweder explizit auf Gesetze verweiset, die „Näheres“ regeln oder aber insgesamt vage bleibt darin, wie die Grundrechte tatsächlich zu handhaben sind, gibt es Gesetzbücher, die das übernehmen. Was verboten ist und wie bestraft wird, regelt das Strafgesetzbuch. Für den Umgang miteinander gibt es zusätzliche Gesetze, beispielsweise das Antidiskriminierungsgesetz, das letztlich eine Ausprägung einiger Grundrechte ist.

Un nun geht es darum, was auf Demos gesagt werden darf oder verboten ist. Fangen wir einmal mit dem Antisemitismus an. Es ist in Deutschland nicht verboten, Antisemit zu sein – auch wenn diese Einstellung uns nicht gefällt. Man darf sogar so ziemlich jede Meinung haben. Schwierig wird es, wenn man sie nach außen vertreten will. Sobald die Öffentlichkeit im Spiel ist, kommt auch das StGB ins Spiel, vor allem der Paragraph 140.

§ 140 Belohnung und Billigung von Straftaten
Wer eine der in § 138 Absatz 1 Nummer 2 bis 4 und 5 letzte Alternative oder in § 126 Absatz 1 genannten rechtswidrigen Taten (…)
‚1) belohnt, nachdem sie begangen oder in strafbarer Weise versucht worden ist oder
2) in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) billigt,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 

Straftaten sind auf Demos selbstverständlich genauso verboten wie im sonstigen Leben auch. Es gibt sogar einige weitere Einschränkungen, die bekannteste dürfte das „Vermummungsverbot“ sein. Demos müssen in Deutschland gewöhnlich angemeldet werden (Spontandemos aufgrund aktueller Ereignisse sind erlaubt), sie können aber verboten werden, wenn die öffentliche Sicherheit nicht garantiert werden kann oder gefährdet ist. Wenn also erwartbar auf einer Demo Strattaten begangen werden könnten, kann dies Anlass für ein Verbot sein. Wir erinnern uns: im ersten Coronajahr wurden Demos untersagt, weil die Teilnehmer erwartbar gegen die gesetzlichen Corona-Regeln verstoßen würden.

Im aktuellen Fall geht es nun darum, welche Äußerungen auf palästinensischen Demos in Deutschland getätogt werden dürfen. Und da wird es nun kompliziert, denn es ist einerseits bisher juristisch (noch) nicht definiert, welche Parolen nun genau schon eine „Billigung von Straftaten“, also des Terrors der Hamas, sind und welche eher allgemeine politische und damit erlaubt Äußerungen darstellen.

Der frühere BGH-Richter Dr. Thomas Fischer hat dazu einen ausgezeichneten Kommentar veröffentlich, auf den ich hier verweisen möchte. Ich fasse die wichtigsten Punkte einmal zusammen:

1. Das Bejubeln von konkreten bzw. von hinreichend konkretisierbaren Tötungsdelikten der „Hamas“-Miliz in Israel ist nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar.
2. Die öffentliche Verbreitung der Parole „from the river to the sea / Palestine will be free“ ist im konkreten Bedeutungszusammenhang nach § 140 Nr. 2 StGB strafbar. Eine Strafbarkeit nach § 130 Abs. 1 StGB besteht dagegen nicht.
3. Allgemeine „Solidaritäts“-Bekundungen mit den politischen, humanitären oder rechtlichen Anliegen „der Palästinenser“ oder einzelner Gruppen von ihnen sind nicht strafbar, sondern unterfallen Art. 5 Abs. 1 GG. Entsprechende öffentliche Demonstrationen sind über Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art 2 Abs. 1 GG auch dann gerechtfertigt, wenn die dort vertretenen politischen Positionen einer Mehrheit der (deutschen) Bevölkerung abwegig erscheinen. Die palästinensische Flagge ist kein Kennzeichen der Organisation Hamas und daher nicht nach § 86a StGB strafbar.

In Bezug auf das Verbot einer Demo kommt erschwerend hinzu, dass das Verbot vorher ausgesprochen werden muss – die Exekutive also bereits im Vorfeld davon ausgehen muss, dass auf der Demo mit ziemlicher Sicherheit Straftaten begangen werden. Wenn man bedenkt, dass längst nicht alles strafrechtlich relevant ist, was uns bitter aufstößt, dann wird klar, warum die Richter nicht jedes exekutive Verbot abnicken, sondern Demos auch kurzfristig wieder zulassen. Es ist dann Aufgabe der Polizei, bei der Demo auf Einhaltung der Gesetze zu achten.

Nun zum Asylrecht und dem „importierten“ Antisemitismus. Ja, Flüchtende aus arabischen Gebieten haben oftmals ein sehr gefestigtes antisemitisches Weltbild. Das Asylrecht sieht aber keine Gewissensprüfung vor – wir rühmen uns ja gerade, im Gegensatz zu diktatorischen Staaten eine Freiheit der Meinung zu erlauben. Dass deren Weltbild hier unerwünscht ist und nicht zum GG passt, ist offensichtlich.

Nun aber verlangen Politiker von rechts bis links, dass zukünftige Asylbewerber ein Bekenntnis zum GG und auch zum Staate Israel ablegen sollen. Schon das GG-Bekenntnis ist problematisch, siehe oben. Und was bringt es, wenn ein anerkannter Asylbewerber ein belenntnis unterschreibt, es aber gar nicht so meint? Das achte Gebot der Bibel ist das wohl am häufigsten übertretene…

Also muss man erzieherische Maßnahmen anwenden, um dieses Weltbild zu ändern. Was möglich wäre: bspw. ein mehrwöchiger Staatskunde-Unterricht, in dem den Asylsuchenden unser Staatswesen und seine Regeln im Miteinander beigebracht werden – gern auch in deren Muttersprache, um maximales Sprachverständnis zu erzielen. Das garantiert keine Weltbildänderung – aber bisher wurde es nicht einmal versucht, denn ein solcher Unterricht kostet, anders als populistische Politikerforderungen, viel Geld. Und wo dem Asylbewerber bereits eine Basis-Zahnbehandlung geneidet wird, sind kaum Milliarden für ein Schulungsprogramm zu erwarten. Aber es wäre auch eine Gelegenheit, den neu Hinzugekommenen zu erklären, dass sie hier kaum heimisch werden, wenn sie die Grundregeln nicht beachten.

Viel größer als das Problem mit dem Antisemitismus der neu Hinzukommenden ist aber dasjenige der bereits Ansässigen. Damit sind einerseits Familien arabischer Abstammung gemeint, die nach wie vor antisemitisch eingestellt sind. Andererseits sind damit aber auch jene Deutschen gemeint, die ein geschlossen rechtsradikales Weltbild haben – davon gibt es leider viel zu viele. Und leider wächst ihre Zahl, trotz Zugang zu freien Medien und mindestens einem Schulwissen über die Shoah.

Ganz zuletzt eine Anmerkung: Fachliche Kritik an der Politik der israelischen Regierung ist kein Antisemitismus. Dass dort nach wie vor ein Ministerpräsident regiert, gegen den offen und wohl auch berechtigt wegen Korruption ermittelt wird, ist in meinen Augen eine Schande.

Es grüßt herzlich,

Ihr JeanLuc7

 

 

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Das neue Wahlrecht – einmal durchgerechnet

Werte Leserinnen und Leser,

die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat ein neues Wahlrecht in ein Gesetz gegossen. In den langen Jahren der Bundesrepublik war es Usus, Gesetze zum Wahlrecht von einer breiten, parteiübergreifenden Mehrheit im Parlement bestätigen zu lassen. Eine solche Mehrheit ist beim aktuellen Wahlgesetz nicht mehr zu erwarten. Warum? Und wie funktioniert es?

Ein kleiner Exkurs zum aktuellen Wahlrecht

Wir haben bei jeeder Bundestagswahl zwei Stimmen: mit der Erststimme bestimmen wir den Direktkandidaten (insgesamt 299) und mit der Zweitstimme den Anteil, den die von uns gewählte Partei an der Gesamtzahl von Abgeordneten haben kann. Nominal sind das 598. Nur die Zweitstimme ist daher für das Ergebnis der Wahl und die Frage, wer mit wem regiert, relevant.

Fangen wir einmal mit dem Größenwachstum des Bundestages an. Dazu muss man wissen, dass wir zwar bundesweit Parteien wählen, diese aber mit Landeslisten antreten. Der gute Grund hierfür ist, dass innerhalb jeder Partei jedes Bundesland eine Anzahl von Vertretern ins Parlament entsenden soll. Einerseits geschieht dies durch die 299 Direktkandidaten, jene Bewerber, die über die Erststimme gewählt werden und dann als Sieger angesehen werden, wenn sie die einfache Mehrheit erringen. Die kann weit entfernt von der absoluten mehrheit, also 50%+, entfernt sein. Bei der letzten Bundestagswahl (BTW) kam der CDU-Kandidat im Wahlkeis Dresden II auf gerade einmal 18,6% – und gewann mit nur zehntelprozenten vor dem Zweitplatzierten.

Die anderen 299 Mitglieder des Bundestages werden über Landeslisten bestimmt Und da fängt das Problem an: Gewinnen für eine Partei mehr Direktkandidaten ihren Wahlkreis, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, dürfen derzeit auch die zusätzlichen Direktkandidaten in den Bundestag. Damit das Verhältnis wieder stimmt, müssen aber alle anderen Parteien sogenannte Ausgleichsmandate bekommen.

In der alten BRD mit ihren zwei großen und einer, später zwei kleinen Parteien war das nie ein Problem. Es regierten mal CDU/FDP, dann SPD/FDP und schließlich wieder CDU/FDP. Und das große Problem „CSU“ die statt der CDU nur in Bayern gewählt werden konnte, trat schon deshalb nicht auf, weil die CSU regelmäßig mehr als 50% der Stimmen einfuhr – und damit neben all ihren Direktkandidaten auch noch ein paar Landeslistenkandidaten entsenden durfte.

Ergebnis der Bundestagswahl 2021

Die folgende Tabelle berücksichtigt, dass nur 80,7% der Stimmen für die Aufteilung der Mandate relevant sind – der Rest ging an Parteien unterhalb der 5%-Hürde, war ungültig oder eine Enthaltung. Damit ergäbe sich für 2021 nach den Zweitstimmen folgendes Ergebnis:

Partei Ergebnis Anteil für Bundestag Sitze (597)*
CDU 19,8% 24,5% 147
CSU 5,2% 6,4% 38
SPD 25,7% 31,9% 190
Grüne 14,8% 18,3% 110
Linke 4,9% 6,1% 36
AfD 10,3% 12,8% 76
  • zu vergeben sind nur 597 Sitze, der SSW in Schleswig-Holstein, der die dänische Minderheit im Land vertritt, bekam mit 0,1% der Stimmen einen Sitz im Bundestag, weil er von der 5%-Sperrklausel ausgenommen ist.

Seit 2009 erzielt die CSU aber Wahlergebnisse, die deutlich unter 50% liegen. Die Gründe dafür sind vielfältig, heißen aber hauptsächlich „Freie Wähler“ und „AfD“. Nach wie vor ist Bayern erzkonservativ, nur die CSU ist nicht mehr so gefragt. Und damit sind wir auch schon beim Kern des Problems. Bei der Wahl 2021 hat die CSU 5,2% der Stimmen (31,7% bezogen auf Bayern) gewonnen – ihr stehen also rechnerisch 6,4% von 598 (tatsächlich 597, wegen des SSW) Abgeordnetenstühlen zu. Das sind 38 Sitze. Allerdings gewann die CSU 45 von 46 Direktmandaten – München-Süd ging an die Grünen. Sie hat also 7 Abgeordnete mehr, als ihr nach dem Verteilungsschlüssel zustehen. Hier kommen nun die Ausgleichsmandate ins Spiel – alle anderen Parteien bekommen zusätzliche Mandate, bis das Verhältnis zwischen ihnen und der CSU wieder stimmt.

Warum aber wächst wegen 7 Abgeordneten der Bundestag um 138 Plätze? Nun, hier kommt ein bisschen einfache Arithmetik ins Spiel. 7 Abgeordnete zu viel bei 6,4% müssen durch x Abgeordnete für den Rest ausgeglichen werden:

7 Abgeordnete / 6,4% * (100%-6,4%)  = 101 Abgeordnete

Allein die CSU ist wegen ihres schlechten Zweitstimmeregbnisses damit für 101 zusätzliche Abgeordnete verantwortlich! Man sieht, dass ohne die CSU wohl gar keine Diskussion nötig gewesen wäre: Eine Größenordnung von 30-40 zusätzliche Abgeordneten verkraften wir schon seit vielen Jahren.

Das neue Wahlrecht – alle müssen bluten

Die Koalition hat nun ein Wahlrecht vorgestellt, das einen Bundestag mit 598 Abgeordneten garantiert – es gibt keine Ausgleichsmandate mehr. Das wird erreicht, indem zukünftig der gesamte Bundestag nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt wird. Zwar gibt es noch Direktkandidaten, aber ein Sieg im Wahlkreis führt nur dazu, dass die Kandidaten auf einer Warteliste landen – nur wenn das bisherige Zweitstimmenergebnis (die Zweitstimme heißt zukünftig Hauptstimme) es zulässt, kommen die Kandidaten in den Bundestag. Dazu noch ein Hinweis: 2021  hat in Deutschland kein einziger Direktkandidat eine absolute Mehrheit der Erststimmen erreicht.

Für die CSU hieße das, bezogen auf das Ergebnis aus 2021, dass die 7 Kandidaten mit den schlechtesten Ergebnissen eben nicht in den Bundestag kämen. Und genau das ist der Stein des Anstoßes – die CSU möchte natürlich ihre Pfründe behalten und weiterhin möglichst viele Abgeordnete in den Bundestag schicken. Das alte System hatte natürlich für alle Vorteile: auch die anderen Parteien durften zusätzliche Abgeordnete schicken. Deshalb führt das neue Wahlrecht auch dazu, dass alle Parteien „bluten“ müssen – bei den anderen sind es allerdings zumeist die Listenkandidaten, deren Platz nicht durch einen Direktwahlkampf vor Ort erkämpft wurde.

Das CDU-Modell: Gut ist, was mir nützt!

Die Union hat sich daher ein ganz anderes System ausgedacht – sie nennt es „Grabenwahlsystem“, weil zwischen Direkt- und Listenkandidaten ein „Graben“ gezogen wird, der nicht übersprungen werden kann. Bei dieser Methode werden ebenfalls 598 Plätze vergeben – die Hälfte ausschließlich durch die Erststimme, die andere Hälfte durch die Zweitstimme. Sie dürfen raten, wer davon in den Jahren 2005-2017 als einziger profitiert hätte:

Jahr Unions-Wahlergebnis Unions-mandate* Unionsmandate nach Grabenwahlrecht %-Anteil Union nach Grabenwahlrecht
2005 35,2% 220 255 42,6%
2009 33,8% 230 319 53,3%
2013 41,5% 295 360 60,2%
2017 32,9% 207 329 55%

*Die Anzahl wurde auf 598 Mandate normiert, um vergleichbare Werte zu erhalten.

Ab 2009 hätte die Union aus CDU und CSU jeweils die absolute Mehrheit der Abgeordneten gestellt. Logisch, dass man dort dieses Modell als das beste seit geschnittenem Brot feiert. Selbst 2021 hätte es immerhin noch für die einfache Mehrheit von 36% der Abgeordneten gereicht und damit wahrscheinlich auch für eine Koalition mit nur einem kleineren Partner.

Weniger Direktkandidaten – oder mehr?

Man kann über die Legitimität eines mit knapp 20% der Stimmen gewonnenen Mandats streiten. Als problematischer sehe ich, dass sich ein Abgeordneter, der nicht der Partei angehört, die ich gewählt habe, erwartungsgemäß weniger um meine Themen kümmern wird, wenn sie seiner Parteilinie zuwider laufen. Man mag bei den Parteien, die sich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen, noch von einem gewissen Grundkonsens ausgehen. Im Osten dieses Landes haben wir aber inzwischen Wahlkreisgewinner der AfD. Ich müsste mit dem Klingelbeutel gepudert sein, würde ich als schwuler Mann mit einem queer-politischen Problem zu einem AfD-Bundestagsabgeordnetene gehen, der meinen Wahlkreis vertritt.  Und so wird es wohl den meisten gehen, die die AfD nicht gewählt haben.

Ist also der Direktkandidat. der immerhin in seinem Wahlkreis knapp 270.000 Menschen vertritt, wirklich so wichtig? Das oft gebrachte Argument der persönlichen Ansprache verflüchtigt sich, wenn man bedenkt, dass dieser Abgeordnete in seinen vier Mandatsjahren pro Person gerade mal 7,7 Minuten Zeit hat – bei einem 24-Stunden -Tag, ohne dass er schläft oder irgendeine andere Tätigkeit ausübt. Wer seinen Abgeordneten kennt, gehört damit schon einmal zu einer privilegierten Gruppe.

Im derzeitigen Bundestag sitzen 299 direkt gewählte Abgeordnete, das sind 40,5%. Im neuen, mit dem Wahlrecht der Ampelkoalition, werden es ein paar weniger sein – nach dem alten Wahlrecht fallen ca 20-25 Abgeordnete unter die neue Regel. Da der neue Bundestag aber kleiner ist, beträgt der Anteil der Direktmandate zukünftig 43-47% – die Direktkandidaten machen also einen größeren Anteil als bisher aus. Jene, die uns weismachen wollen, das neue Gesetz entwerte die Direktmandate, sind also im Irrtum.

Fazit

Für die Fans des Mehrheitswahlrechts enthält das neue Gesetz nur schlechte Nachrichten: Mandate werden streng nach dem Verhältniswahlrecht aufgeteilt; Verhältnisse wie in Großbritannien oder gar USA, wo auch Wahlverlierer zum Präsidenten gewählt werden können, werden hier auch zukünftig nicht entstehen. Für alle anderen enthält das Gesetz nur gute Nachrichten. Wählen wird nicht komplizierter, der Bundestag schrumpft auf Normgröße, und Mehrheitsverhältnisse sind von der ersten Hochrechnung an klar. Nur die paar Direktkandidaten, die nun auf der Warteliste bleiben, müssen zukünftig einem anderen Job nachgehen. Wie berechnet wurde, träfe es auch den Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Das wäre kein großer Verlust für die Politik.

Danke, dass Sie bis hier durchgehalten haben – es war ja diesmal ein wenig trockener als üblich.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

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Vom Rechtsstaat und dem Klima

Werte Leserinnen und Leser,

heute durfte ich wieder einmal den Kopf schütteln über einen Beitrag des studierten Juristen Reinhard Müller in der FAZ. Sein Kommentar trägt die Überschrift „Der Rechtsstaat in Geiselhaft“, und er beschäftigt sich dort wieder einmal mit den Aktivisten der „Letzten Generation“. Einige Aktivisten wurden in Hannover vom Oberbürgermeister, der Wirtschaftsdezernentin, der Ratsvorsitzenden und einer Bundestagsabgeordnete (Müller: „alles Grüne“) empfangen, man führte ein Gespräch.

Müller sieht nun den Rechtsstaat in Gefahr, denn:

Die Letzte Generation hat sich nun einmal dafür entschieden, ihren Weg mit Straftaten zu verfolgen. Zahlreiche Gerichte haben das bestätigt. Aufmerksamkeit kann man auch anders erzielen, ein Blick in soziale Medien oder ins Fernsehen genügt. Hannover gibt nicht nur dem Druck der Straße, sondern dem des Rechtsbruchs nach.

Und er polemisiert weiter:

Was kommt als Nächstes? Empfängt der Berliner Senat die Clanbosse, verhandelt Nürnberg mit den Reichsbürgern und Stuttgart mit den „Querdenkern“? Früher stellte man zur Friedenssicherung Geiseln. Heute begibt sich der Rechtsstaat in Geiselhaft einer Gruppe, die ihn missachtet.

Man könnte vielleicht denken, dass jemand wie Müller, der nicht nur selbst das zweite juristischen Staatsexamen abgelegt hat, sondern auch nich mit einer Anwältin verheiratet ist, genau weiß, dass in der Frage der „Letzten Generation“ der Rechtsstaat nun genau NICHT gefährdet ist. Diese Leute begehen nach eine Nötigung, lassen sich festnehmen, ihre Personlaien aufnehmen und finden sich bei Gericht ein, um ihre Strafe anzunehmen. Aufklärungsquote: 100%. Offenbar funktioniert nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch die Strafverfolgung perfekt.

Aber nein – Müller führt sich auf wie ein US-Rechtsanwalt, der seine 12 Geschworenen überzeugen muss – jene Leute also, die kein zweites Staatsexamen haben und daher zumeist nach dem Bauchgefühl entscheiden. Im Falle der FAZ ist das jener rechtskonservative Teil der Leser, der der AfD nahe steht, nicht zwischen Klima und Wetter unterscheiden kann und für den die Hölle nicht feuerrot, sondern grasgrün gestrichen ist. Daher stellt Müller einen Zusammenhang her, auf den ein guter Jurist niemals kommen würde: Klimaaktivisten, Clanbosse, Reichsbürger und „Querdenker“ – letztere von ihm in Anführungszeichen gesetzt, weil seine beifallspendenden Leser zumeist ebenfalls welche waren.

Straftat sei Straftat, schreiben sie in den Kommentaren zu Müllers Beitrag. Wenn man es so sehen will, ist die Nötigung genauso eine Straftat wie der Mord oder der schwere Raub – oder ein Umsturz, wie er kürzlich aufgedeckt wurde. Das führt uns allerdings zu der Frage, wie viel Nötigung in der Demonstration der Klimaaktivisten tatsächlich steckt.

Die Gerichte sind sich da weitgehend einig: Die allermeisten Verfahren wurden mit Geldstrafen beendet. Offenbar ist man vor Gericht noch nicht der Meinung, dass die Aktivisten eigentlich Clanbosse seien oder gar Terroristen (wie sie Müller bereits in früheren Kommentaren nannte) – das Strafmaß passt jedenfalls nicht zu Mord, schwerem Diebstahl oder Terrorismus.

Was andererseits die Motive der Aktivisten betrifft, mag es dem einen oder anderen auch um persönliche Aufmerksamkeit gehen – den meisten aber offenbar nicht. Machen Sie selbst den Test: Nennen Sie drei Namen von Leuten, die der „Letzten Generation“ angehören. Nein, Luisa Neubauer und Greta Thunberg gehören nicht dazu.

Ob andere Maßnahmen sinnvoller sind? Die FFF-Demos im Jahre 2019 wurden von denselben Leuten, die jetzt gegen die Letzte Generation polemisieren, als Schulschwänzer-Hapeninngs diffamiert. Hierzu einmal wikipedia:

Das Happening (englisch; von englisch to happen „geschehen“) ist […] eine der wichtigsten Formen der Aktionskunst der 1960er Jahre.

Man sieht an der Wortwahl, wie alt die Klientel sein muss, die sich da echauffiert. Aber zurück zu den FFF-Demos: sie haben nichts bewirkt. Erst das BVerfG musste die Regierung zwingen, beim Klimaschutz auch an die nächste Generation zu denken und nicht bloß bis zur nächsten Wahl. Auch das wurde übrigens von Müller in der FAZ massiv als Einmischung in die Politik kritisiert – dabei ist es nur ein weiteres gutes Beispiel für das Funktionieren des Rechtsstaats.

Ob nun die Aktionen der „Letzten Generation“ die Sache voranbringen oder eher schaden, steht auf einem anderen Blatt. Ich kenne inzwischen einige, die dem Thema „Klimawandel“ offen gegenüber stehen, aber Straßensperren für übertrieben halten. Dabei sollte man festhalten, dass die Sperren zumeist nicht „Dritte“ treffen wie so mancher Streik, sondern überwiegend jene, die gerade nicht ans Klima denken, weil sie in einem Auto sitzen – und zumeist allein. „Ich muss“ mag für den Lieferverkehr noch gelten, aber wohl nicht für die überwiegende Zahl an PKWs. Hier in Berlin könnten sehr viele auch den ÖPNV benutzen. Aber das Auto ist natürlich bequemer, es ist sowieso da, im ÖPNV galt zuvor die doofe Maskenpflicht und jetzt holt man sich schon beim Einsteigen eine Infektion – wir kennen all diese Ausreden zuhauf. Und auf dem Land, wo „Ich muss“ tatsächlich oft nicht von der Hand zu weisen ist, hat man noch keinen Klimaaktivisten angetroffen.

Wenn man sich dann anschaut, was die Klimaaktivisten eigentlich fordern, muss man sich umso mehr über Leute wie Reinhard Müller wundern – da liest man davon, dass ein Tempolimit eingeführt werden soll, das sowieso von einer Mehrheit der Bundesbürger gewünscht wird. Als zweites folgt das Neun-Euro-Ticket, das im Juni, Juli und August 2022 ein Riesenerfolg war. Beides klingt nicht nach Staatsumsturz oder Beschädigung der Demokratie. Ach ja – man möchte, dass die Politik mit der „Letzten Generation“ redet. Klingt mir jetzt auch nicht nach Müllers „Rechtsstaat in Geiselhaft“, zumal ich auch nicht weiß, wo hier die Geisel sein soll.

In der WELT ging Constantijn van Linden, den wir schon von seinen absurden Entgegnungen zu den Rezo-Videos kennen, sogar so weit, aus den Aktionen der „Letzten Generation“ ein Recht auf Notwehr zu konstruieren: Abreißen, zur Seite schaffen, Drüberrollen. Und viele Leserkommentare pflichteten ihm bei und waren sich gar nicht im Klaren darüber, dass sie damit selbst eine Straftat begehen. Denn auch bei Notwehrhandlungen darf immer nur das geringst schädliche Mittel der Wahl zur Anwendung kommen. Und das besteht hier, da keine Gefahr für Leib und Leben vorliegt, schlicht und einfach darin, die Polizei zu rufen – ein Handy hat heute jeder. Es ist der Job der Polizei, angeklebte junge Leute von der Fahrbahn zu entfernen. Wer es detaillierter ausgeführt haben möchte, findet im Verfassungsblog eine weitergehende Betrachtung.

Kommen wir zum Schluss: Sind die Aktionen der „Letzten Generation“ strafrechtlich relevant? Wahrscheinlich. Sind sie deshalb unberechtigt? Nein – denn derzeit passiert ansonsten gar nichts in Richtung Klimaschutz. Ohne die „Letzte Generation“ könnte man auch annehmen, wir hätten uns alle längst mit dem Klimawandel abgefunden. Leider ist das allerdings bei vielen genau so – ein guter Teil der Bevölkerung glaubt zwar an Götter und die zugehörigen Märchen, aber bezweifelt die Tatsache, dass der Mensch für höhere Temperaturen verantwortlich ist. Dieser Teil der Bevölkerung ist zumeist alt, aber leider nicht so alt, dass sich das Problem geriatrisch schnell lösen würde. Und er darf bis ins hohe Alter wählen, was die jungen Leute derzeit erst ab 18 können.

Daher bleibt nur, jene zu überzeugen, die der Sache aufgeschlossen gegenüber stehen, weil sie der Wissenschaft vertrauen und nicht der Energieindustrie und den Erzkonservativen, die sich immer noch die Welt untertan machen wollen. Und bei den Aufgeschlossenen sehe ich momentan deutliche Zweifel an den Aktionen der „Letzten Generation“. Vielleicht sollte sie zukünftig ihre Aktionen mit Standortangabe drei Tage vorher ankündigen – genug Zeit für jeden, um an diesem einen Tag auch mal den ÖPNV zu benutzen.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

 

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Wiedereinführung der Wehrpflicht?

Werte Leser:innen,

ich muss zugeben, ich hätte bis gestern nicht gedacht, dass ich wirklich einmal darüber nachdenken würde, die derzeit ausgesetzte Wehrpflicht in Deutschland wieder zu aktivieren. Aber nun marschieren russische Soldaten in der Ukraine, und Menschen sterben, weil ein paar Mafiosi im Kreml den Hals nicht voll genug bekommen können – und offenbar die Gelegehnheit als günstig erachten.

Die Gelegenheit – nun ja. Klar, wir würden uns natürlich verteidigen, wenn „der Russe“ hier in Deutschland einmarschieren wollte. Aber seien wir doch einmal ehrlich: was ist mit Litauen, Lettland, Estland? Alle drei Baltenstaaten gehören zur EU und auch zur NATO. Aber würden wir ernsthaft zur Waffe greifen, wenn der NATO-Verteidigungsfall ausgerufen wird, weil Putin nun auch Litauen heim ins Russenreich holen möchte? Ja klar, wir würden Protestnoten schreiben – aber einen militärischen Schlag gegen Russland führen? Wegen Litauen? Selbst bei Polen bin ich mir da unserer Solidarität nicht sicher.

Und dann denken wir das einmal weiter: Würden Frankreich und England zu den Waffen greifen, wenn Putins Armeen wirklich vor unserer Grenze ständen? Bloß, weil unsere Bundeswehr heute noch viel weniger als 1962 nur „bedingt abwehrbereit“ ist und wir uns gar nicht mehr selbst verteidigen können? Auch dessen bin ich mir nicht so sicher – mindestens gäbe es derartige Diskussionen und eine nicht zu vernachlässigende Minderheit, die von militärischen Einsätzen abraten würde.

Nun leben wir in einer Zeit, in der wir Krieg in Europa für unmöglich hielten. Diplomatische Verwicklungen, ja. Kleine Grenzscharmützel, wie wir sie ab und an im Balkan erleben, ja. Griechen und Türken sind sich an ihren Grenzen auch nicht immer einig. Aber auch ich dachte, die Russland-Ukraine-Krise laufe lediglich darauf hinaus, für Putin bessere Bedingungen am Diplomatentisch zu schaffen. So ist es aber nicht. Putin setzt ganz klar auf Krieg als Fortsetzung der Diploimatie mit anderen Mitteln – als wäre der Erste Weltkrieg gerade erst beendet.

Es hilft nichts – allein zur Abschreckung halte ich es für erforderlich, die Bundeswehr wieder zu stärken. Und ich fürchte, wir werden auch die schmerzhafte Diskussion um die Teilnahme deutscher Soldaten an NATO-Außenmissionen führen müssen. Damit meine ich nicht den unsinnigen Einsatz in Afghanistan, sondern unseren Kontinent – und eben auch Litauen, Lettland und Estland.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

P.S.: Warum ich die USA nicht erwähne? Das liegt daran, dass ich in einem Forenbeitrag einen Vergleich des jetzigen Konflikts mit dem Überfall des Iraks 2003 durch die Vereinigten Staaten (und ihre Koalition der Willigen) lesen durfte und nachdenklich wurde. Denn leider sind beide Militäreinsätze durchaus vergleichbar.

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