Das neue Wahlrecht – einmal durchgerechnet

Werte Leserinnen und Leser,

die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat ein neues Wahlrecht in ein Gesetz gegossen. In den langen Jahren der Bundesrepublik war es Usus, Gesetze zum Wahlrecht von einer breiten, parteiübergreifenden Mehrheit im Parlement bestätigen zu lassen. Eine solche Mehrheit ist beim aktuellen Wahlgesetz nicht mehr zu erwarten. Warum? Und wie funktioniert es?

Ein kleiner Exkurs zum aktuellen Wahlrecht

Wir haben bei jeeder Bundestagswahl zwei Stimmen: mit der Erststimme bestimmen wir den Direktkandidaten (insgesamt 299) und mit der Zweitstimme den Anteil, den die von uns gewählte Partei an der Gesamtzahl von Abgeordneten haben kann. Nominal sind das 598. Nur die Zweitstimme ist daher für das Ergebnis der Wahl und die Frage, wer mit wem regiert, relevant.

Fangen wir einmal mit dem Größenwachstum des Bundestages an. Dazu muss man wissen, dass wir zwar bundesweit Parteien wählen, diese aber mit Landeslisten antreten. Der gute Grund hierfür ist, dass innerhalb jeder Partei jedes Bundesland eine Anzahl von Vertretern ins Parlament entsenden soll. Einerseits geschieht dies durch die 299 Direktkandidaten, jene Bewerber, die über die Erststimme gewählt werden und dann als Sieger angesehen werden, wenn sie die einfache Mehrheit erringen. Die kann weit entfernt von der absoluten mehrheit, also 50%+, entfernt sein. Bei der letzten Bundestagswahl (BTW) kam der CDU-Kandidat im Wahlkeis Dresden II auf gerade einmal 18,6% – und gewann mit nur zehntelprozenten vor dem Zweitplatzierten.

Die anderen 299 Mitglieder des Bundestages werden über Landeslisten bestimmt Und da fängt das Problem an: Gewinnen für eine Partei mehr Direktkandidaten ihren Wahlkreis, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, dürfen derzeit auch die zusätzlichen Direktkandidaten in den Bundestag. Damit das Verhältnis wieder stimmt, müssen aber alle anderen Parteien sogenannte Ausgleichsmandate bekommen.

In der alten BRD mit ihren zwei großen und einer, später zwei kleinen Parteien war das nie ein Problem. Es regierten mal CDU/FDP, dann SPD/FDP und schließlich wieder CDU/FDP. Und das große Problem „CSU“ die statt der CDU nur in Bayern gewählt werden konnte, trat schon deshalb nicht auf, weil die CSU regelmäßig mehr als 50% der Stimmen einfuhr – und damit neben all ihren Direktkandidaten auch noch ein paar Landeslistenkandidaten entsenden durfte.

Ergebnis der Bundestagswahl 2021

Die folgende Tabelle berücksichtigt, dass nur 80,7% der Stimmen für die Aufteilung der Mandate relevant sind – der Rest ging an Parteien unterhalb der 5%-Hürde, war ungültig oder eine Enthaltung. Damit ergäbe sich für 2021 nach den Zweitstimmen folgendes Ergebnis:

Partei Ergebnis Anteil für Bundestag Sitze (597)*
CDU 19,8% 24,5% 147
CSU 5,2% 6,4% 38
SPD 25,7% 31,9% 190
Grüne 14,8% 18,3% 110
Linke 4,9% 6,1% 36
AfD 10,3% 12,8% 76
  • zu vergeben sind nur 597 Sitze, der SSW in Schleswig-Holstein, der die dänische Minderheit im Land vertritt, bekam mit 0,1% der Stimmen einen Sitz im Bundestag, weil er von der 5%-Sperrklausel ausgenommen ist.

Seit 2009 erzielt die CSU aber Wahlergebnisse, die deutlich unter 50% liegen. Die Gründe dafür sind vielfältig, heißen aber hauptsächlich „Freie Wähler“ und „AfD“. Nach wie vor ist Bayern erzkonservativ, nur die CSU ist nicht mehr so gefragt. Und damit sind wir auch schon beim Kern des Problems. Bei der Wahl 2021 hat die CSU 5,2% der Stimmen (31,7% bezogen auf Bayern) gewonnen – ihr stehen also rechnerisch 6,4% von 598 (tatsächlich 597, wegen des SSW) Abgeordnetenstühlen zu. Das sind 38 Sitze. Allerdings gewann die CSU 45 von 46 Direktmandaten – München-Süd ging an die Grünen. Sie hat also 7 Abgeordnete mehr, als ihr nach dem Verteilungsschlüssel zustehen. Hier kommen nun die Ausgleichsmandate ins Spiel – alle anderen Parteien bekommen zusätzliche Mandate, bis das Verhältnis zwischen ihnen und der CSU wieder stimmt.

Warum aber wächst wegen 7 Abgeordneten der Bundestag um 138 Plätze? Nun, hier kommt ein bisschen einfache Arithmetik ins Spiel. 7 Abgeordnete zu viel bei 6,4% müssen durch x Abgeordnete für den Rest ausgeglichen werden:

7 Abgeordnete / 6,4% * (100%-6,4%)  = 101 Abgeordnete

Allein die CSU ist wegen ihres schlechten Zweitstimmeregbnisses damit für 101 zusätzliche Abgeordnete verantwortlich! Man sieht, dass ohne die CSU wohl gar keine Diskussion nötig gewesen wäre: Eine Größenordnung von 30-40 zusätzliche Abgeordneten verkraften wir schon seit vielen Jahren.

Das neue Wahlrecht – alle müssen bluten

Die Koalition hat nun ein Wahlrecht vorgestellt, das einen Bundestag mit 598 Abgeordneten garantiert – es gibt keine Ausgleichsmandate mehr. Das wird erreicht, indem zukünftig der gesamte Bundestag nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt wird. Zwar gibt es noch Direktkandidaten, aber ein Sieg im Wahlkreis führt nur dazu, dass die Kandidaten auf einer Warteliste landen – nur wenn das bisherige Zweitstimmenergebnis (die Zweitstimme heißt zukünftig Hauptstimme) es zulässt, kommen die Kandidaten in den Bundestag. Dazu noch ein Hinweis: 2021  hat in Deutschland kein einziger Direktkandidat eine absolute Mehrheit der Erststimmen erreicht.

Für die CSU hieße das, bezogen auf das Ergebnis aus 2021, dass die 7 Kandidaten mit den schlechtesten Ergebnissen eben nicht in den Bundestag kämen. Und genau das ist der Stein des Anstoßes – die CSU möchte natürlich ihre Pfründe behalten und weiterhin möglichst viele Abgeordnete in den Bundestag schicken. Das alte System hatte natürlich für alle Vorteile: auch die anderen Parteien durften zusätzliche Abgeordnete schicken. Deshalb führt das neue Wahlrecht auch dazu, dass alle Parteien „bluten“ müssen – bei den anderen sind es allerdings zumeist die Listenkandidaten, deren Platz nicht durch einen Direktwahlkampf vor Ort erkämpft wurde.

Das CDU-Modell: Gut ist, was mir nützt!

Die Union hat sich daher ein ganz anderes System ausgedacht – sie nennt es „Grabenwahlsystem“, weil zwischen Direkt- und Listenkandidaten ein „Graben“ gezogen wird, der nicht übersprungen werden kann. Bei dieser Methode werden ebenfalls 598 Plätze vergeben – die Hälfte ausschließlich durch die Erststimme, die andere Hälfte durch die Zweitstimme. Sie dürfen raten, wer davon in den Jahren 2005-2017 als einziger profitiert hätte:

Jahr Unions-Wahlergebnis Unions-mandate* Unionsmandate nach Grabenwahlrecht %-Anteil Union nach Grabenwahlrecht
2005 35,2% 220 255 42,6%
2009 33,8% 230 319 53,3%
2013 41,5% 295 360 60,2%
2017 32,9% 207 329 55%

*Die Anzahl wurde auf 598 Mandate normiert, um vergleichbare Werte zu erhalten.

Ab 2009 hätte die Union aus CDU und CSU jeweils die absolute Mehrheit der Abgeordneten gestellt. Logisch, dass man dort dieses Modell als das beste seit geschnittenem Brot feiert. Selbst 2021 hätte es immerhin noch für die einfache Mehrheit von 36% der Abgeordneten gereicht und damit wahrscheinlich auch für eine Koalition mit nur einem kleineren Partner.

Weniger Direktkandidaten – oder mehr?

Man kann über die Legitimität eines mit knapp 20% der Stimmen gewonnenen Mandats streiten. Als problematischer sehe ich, dass sich ein Abgeordneter, der nicht der Partei angehört, die ich gewählt habe, erwartungsgemäß weniger um meine Themen kümmern wird, wenn sie seiner Parteilinie zuwider laufen. Man mag bei den Parteien, die sich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen, noch von einem gewissen Grundkonsens ausgehen. Im Osten dieses Landes haben wir aber inzwischen Wahlkreisgewinner der AfD. Ich müsste mit dem Klingelbeutel gepudert sein, würde ich als schwuler Mann mit einem queer-politischen Problem zu einem AfD-Bundestagsabgeordnetene gehen, der meinen Wahlkreis vertritt.  Und so wird es wohl den meisten gehen, die die AfD nicht gewählt haben.

Ist also der Direktkandidat. der immerhin in seinem Wahlkreis knapp 270.000 Menschen vertritt, wirklich so wichtig? Das oft gebrachte Argument der persönlichen Ansprache verflüchtigt sich, wenn man bedenkt, dass dieser Abgeordnete in seinen vier Mandatsjahren pro Person gerade mal 7,7 Minuten Zeit hat – bei einem 24-Stunden -Tag, ohne dass er schläft oder irgendeine andere Tätigkeit ausübt. Wer seinen Abgeordneten kennt, gehört damit schon einmal zu einer privilegierten Gruppe.

Im derzeitigen Bundestag sitzen 299 direkt gewählte Abgeordnete, das sind 40,5%. Im neuen, mit dem Wahlrecht der Ampelkoalition, werden es ein paar weniger sein – nach dem alten Wahlrecht fallen ca 20-25 Abgeordnete unter die neue Regel. Da der neue Bundestag aber kleiner ist, beträgt der Anteil der Direktmandate zukünftig 43-47% – die Direktkandidaten machen also einen größeren Anteil als bisher aus. Jene, die uns weismachen wollen, das neue Gesetz entwerte die Direktmandate, sind also im Irrtum.

Fazit

Für die Fans des Mehrheitswahlrechts enthält das neue Gesetz nur schlechte Nachrichten: Mandate werden streng nach dem Verhältniswahlrecht aufgeteilt; Verhältnisse wie in Großbritannien oder gar USA, wo auch Wahlverlierer zum Präsidenten gewählt werden können, werden hier auch zukünftig nicht entstehen. Für alle anderen enthält das Gesetz nur gute Nachrichten. Wählen wird nicht komplizierter, der Bundestag schrumpft auf Normgröße, und Mehrheitsverhältnisse sind von der ersten Hochrechnung an klar. Nur die paar Direktkandidaten, die nun auf der Warteliste bleiben, müssen zukünftig einem anderen Job nachgehen. Wie berechnet wurde, träfe es auch den Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Das wäre kein großer Verlust für die Politik.

Danke, dass Sie bis hier durchgehalten haben – es war ja diesmal ein wenig trockener als üblich.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

Veröffentlicht unter Allgemein, Politik | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Das neue Wahlrecht – einmal durchgerechnet

Vom Rechtsstaat und dem Klima

Werte Leserinnen und Leser,

heute durfte ich wieder einmal den Kopf schütteln über einen Beitrag des studierten Juristen Reinhard Müller in der FAZ. Sein Kommentar trägt die Überschrift „Der Rechtsstaat in Geiselhaft“, und er beschäftigt sich dort wieder einmal mit den Aktivisten der „Letzten Generation“. Einige Aktivisten wurden in Hannover vom Oberbürgermeister, der Wirtschaftsdezernentin, der Ratsvorsitzenden und einer Bundestagsabgeordnete (Müller: „alles Grüne“) empfangen, man führte ein Gespräch.

Müller sieht nun den Rechtsstaat in Gefahr, denn:

Die Letzte Generation hat sich nun einmal dafür entschieden, ihren Weg mit Straftaten zu verfolgen. Zahlreiche Gerichte haben das bestätigt. Aufmerksamkeit kann man auch anders erzielen, ein Blick in soziale Medien oder ins Fernsehen genügt. Hannover gibt nicht nur dem Druck der Straße, sondern dem des Rechtsbruchs nach.

Und er polemisiert weiter:

Was kommt als Nächstes? Empfängt der Berliner Senat die Clanbosse, verhandelt Nürnberg mit den Reichsbürgern und Stuttgart mit den „Querdenkern“? Früher stellte man zur Friedenssicherung Geiseln. Heute begibt sich der Rechtsstaat in Geiselhaft einer Gruppe, die ihn missachtet.

Man könnte vielleicht denken, dass jemand wie Müller, der nicht nur selbst das zweite juristischen Staatsexamen abgelegt hat, sondern auch nich mit einer Anwältin verheiratet ist, genau weiß, dass in der Frage der „Letzten Generation“ der Rechtsstaat nun genau NICHT gefährdet ist. Diese Leute begehen nach eine Nötigung, lassen sich festnehmen, ihre Personlaien aufnehmen und finden sich bei Gericht ein, um ihre Strafe anzunehmen. Aufklärungsquote: 100%. Offenbar funktioniert nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch die Strafverfolgung perfekt.

Aber nein – Müller führt sich auf wie ein US-Rechtsanwalt, der seine 12 Geschworenen überzeugen muss – jene Leute also, die kein zweites Staatsexamen haben und daher zumeist nach dem Bauchgefühl entscheiden. Im Falle der FAZ ist das jener rechtskonservative Teil der Leser, der der AfD nahe steht, nicht zwischen Klima und Wetter unterscheiden kann und für den die Hölle nicht feuerrot, sondern grasgrün gestrichen ist. Daher stellt Müller einen Zusammenhang her, auf den ein guter Jurist niemals kommen würde: Klimaaktivisten, Clanbosse, Reichsbürger und „Querdenker“ – letztere von ihm in Anführungszeichen gesetzt, weil seine beifallspendenden Leser zumeist ebenfalls welche waren.

Straftat sei Straftat, schreiben sie in den Kommentaren zu Müllers Beitrag. Wenn man es so sehen will, ist die Nötigung genauso eine Straftat wie der Mord oder der schwere Raub – oder ein Umsturz, wie er kürzlich aufgedeckt wurde. Das führt uns allerdings zu der Frage, wie viel Nötigung in der Demonstration der Klimaaktivisten tatsächlich steckt.

Die Gerichte sind sich da weitgehend einig: Die allermeisten Verfahren wurden mit Geldstrafen beendet. Offenbar ist man vor Gericht noch nicht der Meinung, dass die Aktivisten eigentlich Clanbosse seien oder gar Terroristen (wie sie Müller bereits in früheren Kommentaren nannte) – das Strafmaß passt jedenfalls nicht zu Mord, schwerem Diebstahl oder Terrorismus.

Was andererseits die Motive der Aktivisten betrifft, mag es dem einen oder anderen auch um persönliche Aufmerksamkeit gehen – den meisten aber offenbar nicht. Machen Sie selbst den Test: Nennen Sie drei Namen von Leuten, die der „Letzten Generation“ angehören. Nein, Luisa Neubauer und Greta Thunberg gehören nicht dazu.

Ob andere Maßnahmen sinnvoller sind? Die FFF-Demos im Jahre 2019 wurden von denselben Leuten, die jetzt gegen die Letzte Generation polemisieren, als Schulschwänzer-Hapeninngs diffamiert. Hierzu einmal wikipedia:

Das Happening (englisch; von englisch to happen „geschehen“) ist […] eine der wichtigsten Formen der Aktionskunst der 1960er Jahre.

Man sieht an der Wortwahl, wie alt die Klientel sein muss, die sich da echauffiert. Aber zurück zu den FFF-Demos: sie haben nichts bewirkt. Erst das BVerfG musste die Regierung zwingen, beim Klimaschutz auch an die nächste Generation zu denken und nicht bloß bis zur nächsten Wahl. Auch das wurde übrigens von Müller in der FAZ massiv als Einmischung in die Politik kritisiert – dabei ist es nur ein weiteres gutes Beispiel für das Funktionieren des Rechtsstaats.

Ob nun die Aktionen der „Letzten Generation“ die Sache voranbringen oder eher schaden, steht auf einem anderen Blatt. Ich kenne inzwischen einige, die dem Thema „Klimawandel“ offen gegenüber stehen, aber Straßensperren für übertrieben halten. Dabei sollte man festhalten, dass die Sperren zumeist nicht „Dritte“ treffen wie so mancher Streik, sondern überwiegend jene, die gerade nicht ans Klima denken, weil sie in einem Auto sitzen – und zumeist allein. „Ich muss“ mag für den Lieferverkehr noch gelten, aber wohl nicht für die überwiegende Zahl an PKWs. Hier in Berlin könnten sehr viele auch den ÖPNV benutzen. Aber das Auto ist natürlich bequemer, es ist sowieso da, im ÖPNV galt zuvor die doofe Maskenpflicht und jetzt holt man sich schon beim Einsteigen eine Infektion – wir kennen all diese Ausreden zuhauf. Und auf dem Land, wo „Ich muss“ tatsächlich oft nicht von der Hand zu weisen ist, hat man noch keinen Klimaaktivisten angetroffen.

Wenn man sich dann anschaut, was die Klimaaktivisten eigentlich fordern, muss man sich umso mehr über Leute wie Reinhard Müller wundern – da liest man davon, dass ein Tempolimit eingeführt werden soll, das sowieso von einer Mehrheit der Bundesbürger gewünscht wird. Als zweites folgt das Neun-Euro-Ticket, das im Juni, Juli und August 2022 ein Riesenerfolg war. Beides klingt nicht nach Staatsumsturz oder Beschädigung der Demokratie. Ach ja – man möchte, dass die Politik mit der „Letzten Generation“ redet. Klingt mir jetzt auch nicht nach Müllers „Rechtsstaat in Geiselhaft“, zumal ich auch nicht weiß, wo hier die Geisel sein soll.

In der WELT ging Constantijn van Linden, den wir schon von seinen absurden Entgegnungen zu den Rezo-Videos kennen, sogar so weit, aus den Aktionen der „Letzten Generation“ ein Recht auf Notwehr zu konstruieren: Abreißen, zur Seite schaffen, Drüberrollen. Und viele Leserkommentare pflichteten ihm bei und waren sich gar nicht im Klaren darüber, dass sie damit selbst eine Straftat begehen. Denn auch bei Notwehrhandlungen darf immer nur das geringst schädliche Mittel der Wahl zur Anwendung kommen. Und das besteht hier, da keine Gefahr für Leib und Leben vorliegt, schlicht und einfach darin, die Polizei zu rufen – ein Handy hat heute jeder. Es ist der Job der Polizei, angeklebte junge Leute von der Fahrbahn zu entfernen. Wer es detaillierter ausgeführt haben möchte, findet im Verfassungsblog eine weitergehende Betrachtung.

Kommen wir zum Schluss: Sind die Aktionen der „Letzten Generation“ strafrechtlich relevant? Wahrscheinlich. Sind sie deshalb unberechtigt? Nein – denn derzeit passiert ansonsten gar nichts in Richtung Klimaschutz. Ohne die „Letzte Generation“ könnte man auch annehmen, wir hätten uns alle längst mit dem Klimawandel abgefunden. Leider ist das allerdings bei vielen genau so – ein guter Teil der Bevölkerung glaubt zwar an Götter und die zugehörigen Märchen, aber bezweifelt die Tatsache, dass der Mensch für höhere Temperaturen verantwortlich ist. Dieser Teil der Bevölkerung ist zumeist alt, aber leider nicht so alt, dass sich das Problem geriatrisch schnell lösen würde. Und er darf bis ins hohe Alter wählen, was die jungen Leute derzeit erst ab 18 können.

Daher bleibt nur, jene zu überzeugen, die der Sache aufgeschlossen gegenüber stehen, weil sie der Wissenschaft vertrauen und nicht der Energieindustrie und den Erzkonservativen, die sich immer noch die Welt untertan machen wollen. Und bei den Aufgeschlossenen sehe ich momentan deutliche Zweifel an den Aktionen der „Letzten Generation“. Vielleicht sollte sie zukünftig ihre Aktionen mit Standortangabe drei Tage vorher ankündigen – genug Zeit für jeden, um an diesem einen Tag auch mal den ÖPNV zu benutzen.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

 

Veröffentlicht unter Allgemein, Politik, Rant | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Vom Rechtsstaat und dem Klima

Wiedereinführung der Wehrpflicht?

Werte Leser:innen,

ich muss zugeben, ich hätte bis gestern nicht gedacht, dass ich wirklich einmal darüber nachdenken würde, die derzeit ausgesetzte Wehrpflicht in Deutschland wieder zu aktivieren. Aber nun marschieren russische Soldaten in der Ukraine, und Menschen sterben, weil ein paar Mafiosi im Kreml den Hals nicht voll genug bekommen können – und offenbar die Gelegehnheit als günstig erachten.

Die Gelegenheit – nun ja. Klar, wir würden uns natürlich verteidigen, wenn „der Russe“ hier in Deutschland einmarschieren wollte. Aber seien wir doch einmal ehrlich: was ist mit Litauen, Lettland, Estland? Alle drei Baltenstaaten gehören zur EU und auch zur NATO. Aber würden wir ernsthaft zur Waffe greifen, wenn der NATO-Verteidigungsfall ausgerufen wird, weil Putin nun auch Litauen heim ins Russenreich holen möchte? Ja klar, wir würden Protestnoten schreiben – aber einen militärischen Schlag gegen Russland führen? Wegen Litauen? Selbst bei Polen bin ich mir da unserer Solidarität nicht sicher.

Und dann denken wir das einmal weiter: Würden Frankreich und England zu den Waffen greifen, wenn Putins Armeen wirklich vor unserer Grenze ständen? Bloß, weil unsere Bundeswehr heute noch viel weniger als 1962 nur „bedingt abwehrbereit“ ist und wir uns gar nicht mehr selbst verteidigen können? Auch dessen bin ich mir nicht so sicher – mindestens gäbe es derartige Diskussionen und eine nicht zu vernachlässigende Minderheit, die von militärischen Einsätzen abraten würde.

Nun leben wir in einer Zeit, in der wir Krieg in Europa für unmöglich hielten. Diplomatische Verwicklungen, ja. Kleine Grenzscharmützel, wie wir sie ab und an im Balkan erleben, ja. Griechen und Türken sind sich an ihren Grenzen auch nicht immer einig. Aber auch ich dachte, die Russland-Ukraine-Krise laufe lediglich darauf hinaus, für Putin bessere Bedingungen am Diplomatentisch zu schaffen. So ist es aber nicht. Putin setzt ganz klar auf Krieg als Fortsetzung der Diploimatie mit anderen Mitteln – als wäre der Erste Weltkrieg gerade erst beendet.

Es hilft nichts – allein zur Abschreckung halte ich es für erforderlich, die Bundeswehr wieder zu stärken. Und ich fürchte, wir werden auch die schmerzhafte Diskussion um die Teilnahme deutscher Soldaten an NATO-Außenmissionen führen müssen. Damit meine ich nicht den unsinnigen Einsatz in Afghanistan, sondern unseren Kontinent – und eben auch Litauen, Lettland und Estland.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

P.S.: Warum ich die USA nicht erwähne? Das liegt daran, dass ich in einem Forenbeitrag einen Vergleich des jetzigen Konflikts mit dem Überfall des Iraks 2003 durch die Vereinigten Staaten (und ihre Koalition der Willigen) lesen durfte und nachdenklich wurde. Denn leider sind beide Militäreinsätze durchaus vergleichbar.

Veröffentlicht unter Allgemein, Politik | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , | 2 Kommentare

Wie ist das nochmal mit diesen Grundrechten?

Werte Leser:innen,

dieser Beitrag ist nicht für Sie gedacht, denn ich gehe davon aus, dass meine Leser:innen Bescheid wissen darüber, wie Grundrechte funktionieren. Aber leider stoße ich im Rahmen der Diskussionen um Corona-Regeln immer wieder auf Ahnungslose, denen die folgenden Punkte eine Hilfestellung sein mögen – ich werde diesen Beitrag zukünftig als Link nutzen, statt mich immer und immer wieder zu wiederholen in meinen Erklärungen.

Spielen wir also einmal exemplarisch das übliche Behauptung-Tatsachen-Spiel:

1) Das Grundrecht auf Unversehrtheit des eigenen Körpers hat Vorrang vor anderen.

Nein. Grundrechte stehen oft im Widerstreit zueinander; beispielsweise kommen Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit sich oft in die Quere. Es gibt aber keine „Supergrundrechte“ (übrigens schon mal gar keins auf „Sicherheit“, wie es ein ehemaliger Innenminister 2013 einmal behauptet hat). Im Gegenteil – auch das Grundrecht auf Unversehrtheit des Körpers (hergeleitet aus Art. 2.2 GG) kann aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden.

2) Es gibt kein Grundrecht auf Hedonismus und Partys.

Doch. Art. 2.1 GG besagt genau das: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

3) Andere Bürger haben meine Grundrechte zu achten.

Nein – auch wenn es erst einmal seltsam klingt. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat – der Staat muss sie achten und jedem Bürger garantieren. Die Bürger selbst sind durch BGB und StGB gebunden, müssen sich aber nicht grundrechtskonform verhalten. Wäre es so, dann dürften Reichsbürger und Nazis nicht frei herumlaufen, denn sie sie stehen außerhalb des Grundgesetzes. Und das darf man in Deutschland. Deshalb kann man von anderen Bürgern eben nicht fordern, dass sie das Recht auf Unversherheit des eigenen Körpers zu achten haben – man muss im Gegenteil eben auch selbst aufpassen, dass man nicht an Covid-198 erkrankt. Nichtsdestotrotz bleibt In-den-Raum-hinein-Niesen schlechtes Benehmen.

4) Der Staat gewährt die Grundrechte.

Nein, der Staat muss Grundrechte garantieren. Sie sind kein Geschenk der Regierenden, sondern sind von diesen im Umgang mit den Bürgern zu achten. Sie dürfen nur aufgrund von Gesetzen (bspw. dem Infektionsschutzgesetz) eingeschränkt werden, und dann muss auch das jeweils mildeste Mittel gewählt werden. Das herauszufinden, ist allerdings nicht einfach. Manche meinen, ein dreimaliger Pieks sei ein milderes Mittel als die Maskenpflicht, andere sehen es genau andersherum. Die Juristen stimmen überwiegend der zweiten Meinung zu.

5) Zeitungsforen und soziale Medien haben mein Grundrecht auf Meinungsfreiheit zu achten.

Nein. Zeitungsverlage sind im privaten Besitz, ebenso soziale Medien. Dort gilt das Hausrecht. So wie ich in meinem Haus keine homophoben Sprüche dulde, dürfen Zeitungen und soziale Medien selbst entscheiden, was sie veröffentlichen. Sie müssen dabei auch nicht neutral sein – auch wenn sie es meistens sind, weil das die wenigsten Nachfragen erzeugt. Meist haben Verlage sogenannte Netiquette, ein Kofferwort aus Net und Etiquette, die beschreiben, was die Teilnehmer bzw. Foristen dürfen, und wo das Hausrecht zuschlägt, beispielsweise bei Beleidigungen oder auch Falschmeldungen.

6) Mein Beitrag wurde gelöscht/gesperrt. Das ist Zensur!

Nein. Auch hier schlägt nur das Hausrecht zu. Schauen Sie sich Ihren Beitrag nochmal genau an. Beleidigungen? Unbewiesene Behauptungen? Unterstellungen? Persönliche Angriffe? Verschwörungstheorien? Zwar sind die Grenzen hier fließend, aber zumeist trifft wenigstens einer dieser Punkte zu. Als Zensur bezeichnet man übrigens staatliche Eingriffe in die Meinungsfreiheit. China macht das, dort haben Sie das Wort Tian’anmen kaum fertig getippt, da ist es schon von staatlicher Seite gelöscht. Zensur findet in Deutschland nach Art. 5.1 GG nicht statt.

7) Grundrechte dürfen nicht dauerhaft beschränkt werden.

Ja. Sollte aufgrund bestehender Gefahren eine Einschränkung nötig sein, muss sie befristet und regelmäßig überprüft werden. Deshalb laufen am 20.03. alle bestehenden Corona-Einschränkungen gemäß Infektionsschutzgesetz aus – lediglich eine einmalige, dreimonatige Verlängerung hätte das Gesetz noch erlaubt.

Jetzt ist sicherlich alles klarer.

Es grüßt herzlich

JL7

Veröffentlicht unter Allgemein, Politik, Widerspruch | Verschlagwortet mit , , , , , | Kommentare deaktiviert für Wie ist das nochmal mit diesen Grundrechten?

Wie man einen bösen Fehler vermeiden kann

Werte Leser:innen,

beim Erstellen der Schlagzeile hatte ich kurz mit dem Gedanken gespielt, „Trump is back!“ zu schreiben. Aber dann hätte ich genau denselben Fehler begangen, vor dem ich hier warnen möchte. Schön aber, dass Sie trotz der „langweiligen“ Headline hierher gefunden haben.

Worum geht es? Donald Trumps Internetplattform Truth Social geht an den Start. Die von Ex-US-Präsident Trump initiierte Plattform sei für die, die „gecancelt“ worden seien, erklärt uns der (von Trump mit Wahlkampfspenden finanzierte) Betreiber. Truth Social soll ab dieser Woche verfügbar sein, dann kann man analog zu Twitter statt eines Tweets einen Truth absetzen.

Truth ist gemäß Leo das englische Wort für Wahrheit, Echtheit, Richtigkeit, Genauigkeit. Und genau darum geht es bei dem neuen sozialen Netzwerk – jeder soll das schreiben können, was er für seine persönliche Wahrheit hält. Geprüft wird nichts, Falschinformationen dürfen – da persönliche Wahrheit des Schreibers – stehenbleiben. Wie sich das in die europäische und insbesondere die deutsche Rechtsordnung mit ihrem Netzwerkdurchsetzungsgesetz einfügen soll, weiß bisher niemand. Aber darum geht es wohl auch gar nicht, sondern vor allem um Reichweite in den USA, wo bekanntlich die Meinungsfreiheit viel weitreichender ausgelegt wird als bei uns – bis in Bereiche, die bei uns als Verleumdung, Aufwiegelung  und Volksverhetzung bestraft werden.

Daher nun mein Ratschlag an alle Journalisten da draußen: Das falscheste, was Ihr machen könnt – Jetzt scharenweise bei Social Truth anmelden, dort Trump folgen und uns ab sofort jeden Tag dessen irre Ideen als Schlagzeile zu präsentieren. Denn dann seid Ihr genau die Lautsprecher, die sein Netztwerk bisher nicht hat, aber dringend benötigt, um wichtig zu werden. Natürlich wird der Mann versuchen zu polarisieren. Aber erst die Schlagzeilen machen ihn groß.

Sinnvoll wäre es, das Netzwerk auf kleiner Flamme zu kochen und de facto zu ignorieren. Dass es dort heiß her gehen wird, hat für die Welt keine Bedeutung. In der englischen Übersetzung enthält der Satz „Die Wahrheit liegt da draußen“ bereits die Lüge: „The truth lies out there“. Und so wird es wohl sein mit Trumps neuem Netzwerk: „Social Truth“ lügt da draußen.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

P.S. Beim Herumspielen mit google translate und dem Trump-Spruch „Make America Great again“ kam ich auf ein überraschendes Ergebnis. Zunächst Trumps Wahlkampspruch 2016:

Soweit, so gut. Nun ein modifizierter Spruch, falls er 2024 nochmal antritt:

Ich finde, das sind keine schlechten Aussichten für uns.

 

Veröffentlicht unter Allgemein, Politik | Kommentare deaktiviert für Wie man einen bösen Fehler vermeiden kann