Braucht Deutschland die Piratenpartei?

Mit etwa zwei Prozent der abgegebenen Stimmen ist den Piraten bei der Bundestagswahl ein Achtungserfolg geglückt. Gleichzeitig haben die Parteien CDU/CSU und FDP Koalitionsverhandlungen begonnen, die in vielen Punkten einvernehmlich verlaufen werden. Im zentralen Thema der Piraten, den Bürgerrechten, stehen sich die Verhandlungspartner allerdings scheinbar unvereinbar gegenüber. Während die FDP die Rücknahme des Zugangserschwernisgesetzes und Änderungen am BKA-Gesetz und der Vorratsdatenspeicherung verlangt, hat das CDU-geführte Innenministerium kurz vor der Wahl eine Liste mit weiteren Einschränkungen von Bürgerrechten erstellt. Darin wird sogar die Bildung einer Geheimpolizei, einer Vereinigung aus Geheimdienst und Polizei verlangt.

Es ist klar, dass beide Partner auf dem Feld der inneren Sicherheit punkten wollen. Während die CDU ihrer Wählerschaft die versprochene Sicherheit weiter ausbauen möchte, hat die FDP bereits vor der Wahl klare Aussagen zur Rückkehr zu mehr Freiheit und weniger Überwachung getroffen. Damit liegt sie in vielen Punkten auf einer Linie mit den Piraten, die aufgrund ihrer Ein-Themen-Ausrichtung gesamtheitlich noch schwer einzuschätzen sind.

Koalition ist wie ein Pendel zu verstehen: Bekomme ich dies, bekommst Du das. In der Großen Koalition schlug das Pendel oft weit aus und erbrachte „Mindestlohn vs. BKA-Gesetz“ oder „Gesundheitsfond vs. Rente67“. In der neuen, sogenannten bürgerlichen Koalition werden die Ausschläge des Pendels vermutlich kleiner und bieten den Parteien damit mehr Zeit, saubere und durchdachte Entwürfe zu präsentieren.

Koalition bedeutet auch Kompromiss, und ebensolche werden wir nach meinem Blick in die Glaskugel in den nächsten Wochen präsentiert bekommen. Man sollte nicht zuviel von diesen Kompromissen erwarten, aber manche sind vielversprechend.

Die Themen:

  • Vorratsdatenspeicherung: Beide Parteien einigen sich darauf, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten und anzuerkennen. Derzeit wird erwartet, dass das Gericht gegen die Vorratsdatenspeicherung entscheiden und sie erheblich beschneiden wird. Danach wird die Koalition ein neues Gesetz entwerfen, das deutlich freiheitlicher sein wird. Also Punkt für die FDP.
  • BKA-Gesetz: Auch hier ist eine Klage beim BVG anhängig, allerdings ist die FDP schon in Bayern mit dem Wunsch nach wesentlichen Korrekturen gescheitert. Ohnehin ist der im Gesetz enthaltene und umstrittene „Bundestrojaner“ im Kampf gegen den Terrorismus schon aus technischen Gründen ein zahnloser Tiger. Das BVG wird eher gegen die erweiterten Rechte des BKA angehen. Ein Unentschieden zwischen CDU und FDP.
  • Zugangserschwernisgesetz: Es wird der FDP schwerlich gelingen, das Gesetz komplett zu kippen. Allerdings kann die dringend benötigte Änderung der richterlichen Kontrolle durchgesetzt werden. Im Koalitionsvertrag wird dann festgelegt, dass weitergehende Sperrforderungen abgelehnt werden. Wiederum Unentschieden.
  • Die angesprochene Liste mit neuen Forderungen aus dem Innenministerium verschwindet wieder in der Schublade. Auch hier verliert niemand das Gesicht.

Nun zu den den Personalien:

  • Wolfgang Schäuble (CDU) geht nach Brüssel und wird dort als EU-Kommissar das Thema „Innere Sicherheit“ weiter verfolgen. Neue Ideen im Sinne der Vorratsdatenspeicherung sind uns damit sicher. Sein Weggang hätte den Vorteil, dass man ihm die Schuld an den handwerklichen Fehlern der bisherigen Sicherheitsgesetze zuschieben könnte.
  • Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) wird Justizministerin, wie schon vor 1996. Allerdings wird sie  nicht noch einmal mit Rücktritt drohen können, daher benötigt sie in den Koalitionsverhandlungen einen Achtungserfolg bei den Bürgerrechten.
  • Wolfgang Bosbach (CDU) wird Innenminister. Er steht in der Tradition seines Vorgängers, daher werden wir hier die Ideen des EU-Kommissars Schäuble in deutscher Umsetzung erwarten dürfen. Einige Kommentatoren empfehlen der FDP, auch dieses Ministerium für sich zu reklamieren. Ich bezweifle, das dieser Vorschlag ernsthaft diskutiert wird.
  • Frau von der Leyen bleibt Frau von der Leyen (und wird Gesundheitsministerin).

Nun zur Eingangsfrage: Selbst eine Piratenpartei mit vielleicht 5-6% der Stimmen würde sehr schnell in der Realität ankommen und hätte dann die oben genannten Kompromisse mitzutragen. Sehr schnell würde dann die Partei vor eine Zerreißprobe gestellt wie die Grünen beim Bundeswehrereinsatz in Afghanistan 2001 und die SPD wegen der Agenda 2010 im Jahr 2004. Wir kennen die weitere Geschichte.

Es ist ein Irrglaube annehmen, dass mit der SPD unter einem Kanzler Steinmeier bei der Inneren Sicherheit wesentlich größere Zugeständnisse möglich gewesen wären. Kontinuität ist gewährleistet: Der Innenexperte der SPD Wiefelspütz hat sein Direktmandat im Kreis Unna verteidigt und wird auch dem neuen Bundestag angehören. Gleiches gilt für den SPD-Verhandlungsführer bei den Internetsperren Martin Dörmann und seinen Kölner Wahlkreis.

Ich bezweifle, dass den Piraten eine ähnliche Karriere wie den Grünen bevorsteht, die 1980 mit nur 1,5% den Einzug in den Bundestag verpassten und dann 1983 den Sprung über die 5%-Hürde schafften. Während die Grünen von einer Bewegung gegen Atomenergie und für Ökologie getragen wurden, die in den besten Zeiten fast eine Million Bürger auf die Straßen brachte, schaffte es das Thema „Bürgerrechte“ bisher nur auf maximal 20.000 Teilnehmer bei der Demonstration gegen Angst am 12. September 2009.

Dennoch können die Piraten in den nächsten vier Jahren eine wesentliche Bereicherung der politischen Diskussion sein – indem sie komplexe Themen aufnehmen und sie auf verständliche Weise dem Großteil der Bürger präsentieren, das den vielfältigen Potenzialen des Internets ebenso wenig versteht wie unsere Politiker. Das gilt insbesondere für folgende Bereiche

  • Datenschutz: Bevor hier eine gesetzliche Regelung diskutiert wird, ist es hier erforderlich, den Menschen die Vor- aber auch die Nachteile ihrer Freizügigkeit im Umgang mit ihren Daten bei der Benutzung von Rabattkarten, aber auch sozialen Netzwerken zu erklären. Die Menschen sollten auch verstehen, dass Videokameras die Welt nicht sicherer machen. Allerdings muss man danach den Menschen die Entscheidung überlassen, wie viele Daten sie preisgeben möchten und wo sie sich mit Videokameras wohler fühlen als ohne.
  • Urheberrecht: Mit der Möglichkeit, durch digitale Kopien ein 1:1-Abbild des Originals zu schaffen, ohne das Original zu entfernen, hat sich die Medienwelt verändert. Das lässt sich auch mit rigiden Gesetzen wie dem französischen Three-Strikes-Modell nicht aus der Welt schaffen. Benötigt wird daher ein neues Modell, das den Rechten der Künstler ebenso Rechnung trägt wie dem durch Kopiermöglichkeiten veränderten Vertriebskonzept. Die Piraten könnten hier einen Ausgleich zwischen den Extremen schaffen, also zwischen Kulturflatrate und Kopierverbot bei Strafandrohung. Dieses Thema wird zudem – im Gegensatz zu den Bürgerrechten – von der FDP bisher nicht abgedeckt.

Deutschland braucht die Diskussion, aber es braucht auch Sachverständige und Experten. Die Piraten können diese Aufgabe ausfüllen. Eine Bundestagspartei werden sie dabei nicht, aber ein Interessenverband, der uns in Zukunft gute Dienste leisten kann.

Herzlichst,

Ihr JeanLuc7

Update: Auf tagesschau.de ist ein Bericht über die Piratenpartei erschienen, der noch einige weitere Punkte zusammenfasst; insbesondere der eigene, teilweise recht fragwürdige Umgang mit den Medien wird beleuchtet.

Update 13.10., Bericht auf Spiegel Online: Unionsfraktions-Vizechef Wolfgang Bosbach hat gefordert, die beiden umstrittenen Themen Vorratsdatenspeicherung und BKA-Gesetz bei den Koalitionsverhandlungen auszuklammern. Beides sei Gegenstand eines Streits am Bundesverfassungsgericht, sagte der CDU-Politiker am Dienstag dem Bayerischen Rundfunk. „Man könnte sich ja so einigen, dass es keine Erweiterungen gibt, bevor Karlsruhe entschieden hat.“

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.