Werte Leserinnen und Leser.
offenbar befinden wir uns in den spannendsten Zeiten seit dem Fall der Mauer 1989 und der Eingemeindung der DDR. Eine Million Flüchtlinge werden zu versorgen und zu integrieren sein – und halb Europa revoltiert, weil es den eigenen Reichtum gefährdet sieht. Es war ja auch zu schön: wir sonnen uns in unseren hohen Standards für Leben, Recht und Ordnung, fürchten weder Krieg noch Hunger, sitzen im Winter in warmen Wohnungen oder Autos mit Sitzheizung, können im Supermarkt aus einem riesigen Angebot auswählen – und mäkeln, wenn etwas nicht ganz so schmeckt oder funktioniert, wie erwartet.
Und nun bringt sich die Welt auf einmal stärker in Erinnerung als nur alle paar Stunden per Tagesschau oder Spiegel Online. In Syrien herrscht Krieg, und plötzlich kommen all diese Leute aus den zerbombten syrischen Städten, weil hier Frieden ist und ihnen keine Bomben mehr auf den Kopf fallen. Was fällt denen ein? Können die nicht einfach aufs Land ziehen? Oder wenigstens in Griechenland und den Balkanstaaten bleiben, durch die sie bei der Flucht ja hindurch müssen. Und die ganzen Afghanen – denen haben wir doch nun so lange am Hindukusch geholfen, und jetzt wollen sie mit uns von dort abziehen, weil sie Angst haben, von den erstarkenden Taliban als Kollaborateure hingerichtet zu werden. So war das alles nicht vorgesehen.
Tja, liebe Leute, nun ist es aber so. Alle Diskussionen um grenznahe Transit- oder Haftlager, um Grenzschließungen und – besonders perfide – Hinweise darauf, dass die Flüchtlinge gar nicht rechtens einreisen, weil sie ja bereits aus „sicheren Drittstaaten“ kommen, helfen uns nicht weiter. Selbst wenn wir durch Kürzung der Leistungen ein paar Flüchtlinge davon abhalten, nach Deutschland zu kommen, ändert das nichts am Gros der Lage. Sie sind da, und sie werden so schnell nicht in ihre Heimat zurückkehren, wenn überhaupt. Um es noch einmal zu sagen: Dort herrscht Krieg, sogar ein tückischer mit mindestens drei Fronten, in den jetzt auch noch die Russen involviert sind (und wieder einmal die falsche Seite unterstützen).
Statt weiter Öl ins Feuer der Intoleranten zu gießen und – wie CSU-Seehofer, sein Adlatus Söder und viele aus der CSU und auch der CDU – die Vorurteile von rechts (NPD, Pegida, AfD, …) zu befeuern, ist konstruktive Arbeit nötig. Das ist bekanntermaßen nicht gerade das Paradepferd der CSU (Ausländermaut, Hotelsteuer, Betreuungsgeld…), aber in der Regierung sitzen durchaus noch fähige Köpfe, die dazu in der Lage sind – und sie haben bisher erstaunlicherweise trotz fallender Umfragen die Unterstützung der Kanzlerin.
Was aber sind konstruktive Arbeiten? Mir fallen da auf Anhieb eine Menge ein:
- Winterfeste Quartiere – wohl die dringlichste Aufgabe, denn nicht einmal Söder würde lügen, wenn er behauptete, der Winter stehe vor der Tür. Ja, der deutsche Sport oder andere Großveranstalter werden darunter leiden müssen, dass ihre Hallen plötzlich dauerbelegt sind. Aber wer wird uns verzeihen, wenn wir Flüchtlinge erfrieren lassen?
- Deutschkurse – und zwar verpflichtend für alle. Wir sollten auch daran denken, dass die Flüchtlinge mitnichten aus wirtschaftlichen Gründen kommen – es sind viele gut ausgebildete und vormals wohlhabende Syrer dabei. Ohne Deutsch kommen sie aber nicht weiter.
- Integrationskurse – mit dem Schwerpunkt darauf, dass wir in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat leben, in dem viele Meinungen willkommen sind, Gewalt aber ausschließlich von der Polizei ausgeübt wird und Streitigkeiten vor Gericht geregelt werden können. Korrupte Regierungen und Selbstjustiz haben die Flüchtlinge hinter sich gelassen – das müssen viele aber erst noch begreifen. Auf den Lehrplan gehört auch Toleranz gegenüber Anderen – selbst wenn man aus gläubischen oder politischen Gründen mit den Anderen nicht konform geht.
- Wohnungsbau und -requirierung – die ersten Neoliberalen aus dem konservativen Lager haben uns schon früh erklärt, dass ihr Privateigentum heilig sei. Aber Ausnahmesituationen wie die jetzige erfordern eben auch Ausnahmemaßnahmen. Gerade die besitzende Klasse sollte früh kapieren, dass es diesmal auch an ihre Reichtümer gehen wird. Und die Wirtschaftsfreunde in der Regierung müssen kapieren, dass sie diese Klasse diesmal nicht aussparen dürfen wie bei der Finanzkrise 2008. Wenn Wohnraum fehlt, dürfen Leerstände und Hochpreisvermietungen kein Spielball von Investoren sein. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes)
- Klare Kante gegenüber Nazis und anderen Brandstiftern. Kann es wirklich sein, dass Brandanschläge immer von „Unbekannten“ verübt werden. Ist es wirklich nicht möglich, diese Leute dingfest zu machen oder gar auf frischer Tat zu ertappen? Im Zeitalter von Videoüberwachung und Funkzellenortung klingt das eher wie Fahrlässigkeit. Unsere Gesetze reichen aus, diese Verbrecher für längere Zeit aus dem Verkehr zu ziehen – sofern wir sie dingfest machen.
Und dann wäre da noch die Bevölkerungsmehrheit, die – durchaus verständlich – ihren Wohlstand gern selbst genießen und vor allem nicht teilen will. Das war schon nach dem zweiten Weltkrieg so, als immerhin 12 Millionen Deutsche aus den Ostgebieten in den Westen flüchteten. Manchem wird nicht zu verdeutlichen sein, dass es unsere „verdammte Pflicht“ ist, diesen Menschen zu helfen – dem überwiegenden Teil dieser Mehrheit kann man es aber nahe bringen. Dazu gehört, sie in die Hilfe einzubinden und ihnen die Maßnahmen zu verdeutlichen, die man für eine Integration treffen will. Hetzer wie Seehofer und Söder aber verstärken nur die Ressentiments. Mit billigen Scheinlösungen wie der Schließung der Grenzen erreichen sie möglicherweise Beifall bei dieser Mehrheit – aber sie sollten sich schämen, der Intoleranz nach dem Maul zu reden. Wenn wir die deutschen Grenzen schließen, führt das zu einem Dominoeffekt – aber Frau Merkel hat leider völlig recht: es führt auch zu kriegerischen Zuständen in den Zustromländer des Balkans. Man sollte sich daran erinnern, dass die Menschen dort vor nicht allzu langer Zeit die Waffen noch aufeinander gerichtet haben – die Schwelle, auf Dritte zu schießen, dürfte nicht sehr hoch sein. Wenn dort wegen geschlossener Grenzen die ersten Schüsse fallen sollten, sitzen auch Brandstifter in der bayerischen und sächsischen Regierung.
Daher, liebe Politiker: lasst die Grenzen offen. Helft mit, die Konflikte in Syrien und Libyen zu beenden – dann versiegt auch der Flüchtlingsstrom. Und nutzt Eure Macht, um etwas zu bewegen in Deutschland, und zwar die Herzen der Menschen und nicht etwa Stacheldrahtrollen. Und liebe Mitbürger: Packt mit an, wo immer ihr könnt. Bangemachen gilt nicht.
Es grüßt herzlich
Ihr JL7