Die Ohnmacht des Superlativs

Werte Leserinnen und Leser,

Nach nunmehr 15 Monaten, die wir uns mit der Corona-Pandemie beschäftigen, könnte man denken, es sei eine gewisse Gewöhnung zu beobachten, und tatsächlich ist das auch so. Die allermeisten Menschen tragen beim Einkaufen und im ÖPNV Masken, und inzwischen sogar jene vom FFP2-Typ, der nicht nur andere, sondern auch den Träger schützt. Man hält Abstand beim Einkaufen – es ist sehr lange her, dass mir das letzte Mal jemand an der Kasse im Supermarkt in den Nacken geatmet hat.

Es ist auch eine gewisse Gewöhnung eingetreten in der Handhabung der Maßnahmen, die man nicht so dolle findet, beispielsweise den Kontaktbeschränkungen. Ich kenne niemanden, dessen soziales Leben auf dem Stand von Januar 2020 wäre, auch wenn man sich das eine oder andere Mal nicht an die Beschränkung „Haushalt plus eine Person“ hält, weil sie nur unter lebensfremden Umständen umsetzbar ist.

Selbst die Ausgangssperre der „Bundesnotbremse“ wurde weitgehend unwidersprochen eingehalten – wohl deshalb, weil sie vergleichsweise gut durch die Exekutive (Polizei) kontrollierbar ist. Ich persönlich halte sie für verfassungswidrig, da sie eindeutig nicht das mildeste Mittel einer Grundrechtseinschränkung ist. Man wird sehen, ob das BVerfG es auch so sieht – in jedem Fall kommt seine Entscheidung zu spät, weil das zugehörige Gesetz Ende Juni ausläuft – sofern Söder und Merkel sie nicht verlängern. Aufgrund sinkender Inzidenzen wird sie ohnehin letztlich bedeutungslos.

Ich empfinde es allerdings inzwischen als unerträglich, wenn die täglichen Warnungen vor Lockerungen und neuen Mutanten regelmäßig mit einem Superlativ (oder dessen Alternativformen) aufgepeppt werden müssen. Man liest dann von der „Gefahr massiver Steigerungen der Inzidenzen“ durch Mutanten, einer „extremen Überlastung des Gesundheitssystems“ und Escape-Varianten, die „alles noch viel schlimmer“machen werden. Das Wort „exponentiell“ hat sich so weit abgenutzt, dass inzwischen statt dessen „explosiv“ benutzt wird. Physikalisch ist eine Explosion übrigens lediglich ein exponentielle chemische Reaktion, die nach sehr kurzer Zeit zusammenbricht – gerade nicht das, was die Apologeten uns erklären wollen.

Nun wissen wir, dass das Innenministerium schon im März 2020 beim RKI ein Papier angefordert hat, das laut Staatssekretär Markus Kerber dazu dienen solle, „weitere Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ planen zu können. Ich zitiere aus einem Bericht der WELT:

Das erst Wochen später veröffentlichte Papier bezifferte schließlich ein Worst-Case-Szenario, laut dem mehr als eine Million Menschen am Coronavirus sterben könnten, liefe das Leben weiter wie vor der Pandemie. Es wurden Vorschläge gemacht, wie man die „gewünschte Schockwirkung“ erzielen könne, um diesen Fall zu vermeiden. Man müsse in den Köpfen der Menschen Bilder entstehen lassen: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.“

Ein Jahr später im März 2021 alarmierten uns das RKI, die NoCovid-Gruppe um Brinkmann und Priesemann, Karl Lauterbach und andere, dass uns wegen der britischen Mutante B.1.1.7 ein erneuter Anstieg der Inzidenzen bevorstehe. Natürlich war dieser Anstieg „massiv“, „exponentiell“ oder gar „explosiv“ – auf bis zu 2000 sollte die Inzidenz im Mai klettern. Andere sprachen von bis zu 100.000 Infizierten – pro Tag! Die ZEIT veröffentlichte gar ein bespielbares Diagramm, in dem man den Anstieg der Infektionen anhand der Reproduktionszahl mit Schiebereglern nachvollziehen durfte – mit exponentiellem Verlauf bis ins Endlose im Juni. Das alles zu Zeiten, als die Inzidenzen der britischen Mutante in Großbritannien bereits seit Mitte Januar sanken. Man hätte daraus folgern können, dass es offenbar Maßnahmen gab, die auch gegen B.1.1.7 wirken, aber daraus lässt sich nun einmal kein Drama konstruieren.

Das alles traf nicht ein, und nun lernen wir ein neues Wort, das „Präventionsparadoxon„. Dahinter steckt die Vorstellung, dass beispielsweise in Deutschland der Wald in den 80ern nicht gestorben ist, weil man frühzeitig Katalysatoren in Autos und Rauchentschwefelungsanlagen in Kraftwerke eingebaut hat. Und soweit ist das auch richtig – es gilt natürlich auch für die Pandemie.

Nun aber die falschen Prognosen genau damit zu erklären, halte ich aber für absurd. Denn anders als in den frühen 80ern kannte man im März 2021 die Corona-Maßnahmen bereits und hätte sie sehr wohl in die Modelle einbeziehen können. Denn es stand doch niemals zur Debatte, alle Maßnahmen sofort aufzuheben und dadurch tatsächlich eine unkontrollierte Verbreitung des Virus zu ermöglichen. Worst-Case-Szenarien zu entwerfen und diese – und nur diese – dann öffentlich zu verbreiten, das ist genau die „gewünschte Schockwirkung„, die das Bundesinnenministerium schon im März 2020 erzielen wollte.

Zum Glück haben sich nur wenige Bürger davon beeindrucken lassen. Die meisten haben ihr Leben weitergeführt, sich mit den Maßnahmen mehr oder weniger arrangiert, und die Inzidenzen sanken schließlich, nachdem sie wegen der erhöhten Testquote und der damit verbundenen Aufhellung des Dunkelfeldes zunächst anstiegen.

Ein paar Worte noch zur Überlastung des Gesundheitssystems. Man darf sich fragen, ob statt einer „massiven“ nicht auch schon eine „normale“ Überlastung ein Problem darstellt, aber sei es drum. Denn da sah es im April tatsächlich eng aus – allerdings nie so eng wie im Dezember 2020 und Januar 2021. Im Gegensatz zum All-in-One-Indikator Inzidenz ist allerdings die Bettenauslastung tatsächlich ein wichtiger Indikator, denn hier fallen alle Infektionen mit asymptomatischem oder leichtem Verlauf heraus.

Die Bundesregierung nimmt das allerdings bis heute nicht zur Kenntnis – einzig die Inzidenz zählt. Inzidenz – das ist die Zahl, vor der selbst das RKI heute (Montag, 17. Mai) warnt:

Aufgrund des Feiertags am 13.05.2021 ist bei der Interpretation der Fallzahlen zu beachten, dass an Feier- und Brückentagen weniger Personen einen Arzt aufsuchen, wodurch auch weniger Proben genommen und weniger Laboruntersuchungen durchgeführt werden. Dies führt dazu, dass weniger Erregernachweise an die zuständigen Gesundheitsämter gemeldet werden.

Oder kurzgefasst: „Wir können nicht genau sagen, wie hoch die Inzidenz in den Landkreisen und Städten heute ist“. Keine guten Voraussetzungen, wenn man bedenkt, dass aufgrund dieser Zahl erhebliche Grundrechtseinschränkungen verfügt wurden und deren Aufhebung nun daran hängt, dass diese Zahl fünf Werktage nacheinander den magischen Wert von 100 unterschreitet. Da möchte man schon mehr Gewissheit als eine „Interpretation der Fallzahlen„.

Merke: Der Superlativ und seine alternativen Formen sind nötig für ernste Fälle. Wer sie regelmäßg benutzt, sei es, um sich Gehör zu verschaffen oder weil man glaubt, die Bevölkerung durch angst und Schrecken in den Schranken zu halten, dem sei gesagt, dass selbst der schärfste Superlativ seine Wirkung schnell verliert, wenn man ihn unberechtigt einsetzt. Und danach hört niemand mehr zu. Und leider gilt das dann auch für die Zukunft und andere Bereiche. Wer das nicht will, sollte abrüsten. Die notwendige Information kommt auch an, wenn die Intensivstationen massiv überlastet sind, die Lage noch nie so ernst ist und neue Mutanten äußerst kritisch zu bewerten sind.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

 

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