Vom Rechtsstaat und dem Klima

Werte Leserinnen und Leser,

heute durfte ich wieder einmal den Kopf schütteln über einen Beitrag des studierten Juristen Reinhard Müller in der FAZ. Sein Kommentar trägt die Überschrift „Der Rechtsstaat in Geiselhaft“, und er beschäftigt sich dort wieder einmal mit den Aktivisten der „Letzten Generation“. Einige Aktivisten wurden in Hannover vom Oberbürgermeister, der Wirtschaftsdezernentin, der Ratsvorsitzenden und einer Bundestagsabgeordnete (Müller: „alles Grüne“) empfangen, man führte ein Gespräch.

Müller sieht nun den Rechtsstaat in Gefahr, denn:

Die Letzte Generation hat sich nun einmal dafür entschieden, ihren Weg mit Straftaten zu verfolgen. Zahlreiche Gerichte haben das bestätigt. Aufmerksamkeit kann man auch anders erzielen, ein Blick in soziale Medien oder ins Fernsehen genügt. Hannover gibt nicht nur dem Druck der Straße, sondern dem des Rechtsbruchs nach.

Und er polemisiert weiter:

Was kommt als Nächstes? Empfängt der Berliner Senat die Clanbosse, verhandelt Nürnberg mit den Reichsbürgern und Stuttgart mit den „Querdenkern“? Früher stellte man zur Friedenssicherung Geiseln. Heute begibt sich der Rechtsstaat in Geiselhaft einer Gruppe, die ihn missachtet.

Man könnte vielleicht denken, dass jemand wie Müller, der nicht nur selbst das zweite juristischen Staatsexamen abgelegt hat, sondern auch nich mit einer Anwältin verheiratet ist, genau weiß, dass in der Frage der „Letzten Generation“ der Rechtsstaat nun genau NICHT gefährdet ist. Diese Leute begehen nach eine Nötigung, lassen sich festnehmen, ihre Personlaien aufnehmen und finden sich bei Gericht ein, um ihre Strafe anzunehmen. Aufklärungsquote: 100%. Offenbar funktioniert nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch die Strafverfolgung perfekt.

Aber nein – Müller führt sich auf wie ein US-Rechtsanwalt, der seine 12 Geschworenen überzeugen muss – jene Leute also, die kein zweites Staatsexamen haben und daher zumeist nach dem Bauchgefühl entscheiden. Im Falle der FAZ ist das jener rechtskonservative Teil der Leser, der der AfD nahe steht, nicht zwischen Klima und Wetter unterscheiden kann und für den die Hölle nicht feuerrot, sondern grasgrün gestrichen ist. Daher stellt Müller einen Zusammenhang her, auf den ein guter Jurist niemals kommen würde: Klimaaktivisten, Clanbosse, Reichsbürger und „Querdenker“ – letztere von ihm in Anführungszeichen gesetzt, weil seine beifallspendenden Leser zumeist ebenfalls welche waren.

Straftat sei Straftat, schreiben sie in den Kommentaren zu Müllers Beitrag. Wenn man es so sehen will, ist die Nötigung genauso eine Straftat wie der Mord oder der schwere Raub – oder ein Umsturz, wie er kürzlich aufgedeckt wurde. Das führt uns allerdings zu der Frage, wie viel Nötigung in der Demonstration der Klimaaktivisten tatsächlich steckt.

Die Gerichte sind sich da weitgehend einig: Die allermeisten Verfahren wurden mit Geldstrafen beendet. Offenbar ist man vor Gericht noch nicht der Meinung, dass die Aktivisten eigentlich Clanbosse seien oder gar Terroristen (wie sie Müller bereits in früheren Kommentaren nannte) – das Strafmaß passt jedenfalls nicht zu Mord, schwerem Diebstahl oder Terrorismus.

Was andererseits die Motive der Aktivisten betrifft, mag es dem einen oder anderen auch um persönliche Aufmerksamkeit gehen – den meisten aber offenbar nicht. Machen Sie selbst den Test: Nennen Sie drei Namen von Leuten, die der „Letzten Generation“ angehören. Nein, Luisa Neubauer und Greta Thunberg gehören nicht dazu.

Ob andere Maßnahmen sinnvoller sind? Die FFF-Demos im Jahre 2019 wurden von denselben Leuten, die jetzt gegen die Letzte Generation polemisieren, als Schulschwänzer-Hapeninngs diffamiert. Hierzu einmal wikipedia:

Das Happening (englisch; von englisch to happen „geschehen“) ist […] eine der wichtigsten Formen der Aktionskunst der 1960er Jahre.

Man sieht an der Wortwahl, wie alt die Klientel sein muss, die sich da echauffiert. Aber zurück zu den FFF-Demos: sie haben nichts bewirkt. Erst das BVerfG musste die Regierung zwingen, beim Klimaschutz auch an die nächste Generation zu denken und nicht bloß bis zur nächsten Wahl. Auch das wurde übrigens von Müller in der FAZ massiv als Einmischung in die Politik kritisiert – dabei ist es nur ein weiteres gutes Beispiel für das Funktionieren des Rechtsstaats.

Ob nun die Aktionen der „Letzten Generation“ die Sache voranbringen oder eher schaden, steht auf einem anderen Blatt. Ich kenne inzwischen einige, die dem Thema „Klimawandel“ offen gegenüber stehen, aber Straßensperren für übertrieben halten. Dabei sollte man festhalten, dass die Sperren zumeist nicht „Dritte“ treffen wie so mancher Streik, sondern überwiegend jene, die gerade nicht ans Klima denken, weil sie in einem Auto sitzen – und zumeist allein. „Ich muss“ mag für den Lieferverkehr noch gelten, aber wohl nicht für die überwiegende Zahl an PKWs. Hier in Berlin könnten sehr viele auch den ÖPNV benutzen. Aber das Auto ist natürlich bequemer, es ist sowieso da, im ÖPNV galt zuvor die doofe Maskenpflicht und jetzt holt man sich schon beim Einsteigen eine Infektion – wir kennen all diese Ausreden zuhauf. Und auf dem Land, wo „Ich muss“ tatsächlich oft nicht von der Hand zu weisen ist, hat man noch keinen Klimaaktivisten angetroffen.

Wenn man sich dann anschaut, was die Klimaaktivisten eigentlich fordern, muss man sich umso mehr über Leute wie Reinhard Müller wundern – da liest man davon, dass ein Tempolimit eingeführt werden soll, das sowieso von einer Mehrheit der Bundesbürger gewünscht wird. Als zweites folgt das Neun-Euro-Ticket, das im Juni, Juli und August 2022 ein Riesenerfolg war. Beides klingt nicht nach Staatsumsturz oder Beschädigung der Demokratie. Ach ja – man möchte, dass die Politik mit der „Letzten Generation“ redet. Klingt mir jetzt auch nicht nach Müllers „Rechtsstaat in Geiselhaft“, zumal ich auch nicht weiß, wo hier die Geisel sein soll.

In der WELT ging Constantijn van Linden, den wir schon von seinen absurden Entgegnungen zu den Rezo-Videos kennen, sogar so weit, aus den Aktionen der „Letzten Generation“ ein Recht auf Notwehr zu konstruieren: Abreißen, zur Seite schaffen, Drüberrollen. Und viele Leserkommentare pflichteten ihm bei und waren sich gar nicht im Klaren darüber, dass sie damit selbst eine Straftat begehen. Denn auch bei Notwehrhandlungen darf immer nur das geringst schädliche Mittel der Wahl zur Anwendung kommen. Und das besteht hier, da keine Gefahr für Leib und Leben vorliegt, schlicht und einfach darin, die Polizei zu rufen – ein Handy hat heute jeder. Es ist der Job der Polizei, angeklebte junge Leute von der Fahrbahn zu entfernen. Wer es detaillierter ausgeführt haben möchte, findet im Verfassungsblog eine weitergehende Betrachtung.

Kommen wir zum Schluss: Sind die Aktionen der „Letzten Generation“ strafrechtlich relevant? Wahrscheinlich. Sind sie deshalb unberechtigt? Nein – denn derzeit passiert ansonsten gar nichts in Richtung Klimaschutz. Ohne die „Letzte Generation“ könnte man auch annehmen, wir hätten uns alle längst mit dem Klimawandel abgefunden. Leider ist das allerdings bei vielen genau so – ein guter Teil der Bevölkerung glaubt zwar an Götter und die zugehörigen Märchen, aber bezweifelt die Tatsache, dass der Mensch für höhere Temperaturen verantwortlich ist. Dieser Teil der Bevölkerung ist zumeist alt, aber leider nicht so alt, dass sich das Problem geriatrisch schnell lösen würde. Und er darf bis ins hohe Alter wählen, was die jungen Leute derzeit erst ab 18 können.

Daher bleibt nur, jene zu überzeugen, die der Sache aufgeschlossen gegenüber stehen, weil sie der Wissenschaft vertrauen und nicht der Energieindustrie und den Erzkonservativen, die sich immer noch die Welt untertan machen wollen. Und bei den Aufgeschlossenen sehe ich momentan deutliche Zweifel an den Aktionen der „Letzten Generation“. Vielleicht sollte sie zukünftig ihre Aktionen mit Standortangabe drei Tage vorher ankündigen – genug Zeit für jeden, um an diesem einen Tag auch mal den ÖPNV zu benutzen.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

 

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