Werte Mitglieder der EU-Kommission,
(ausgenommen László Andor, ungarischer Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit)
erinnern wir uns kurz an die wichtige Rolle, die das Land Ungarn beim Fall des Eisernen Vorhangs spielte: Im Juni 1989 durchtrennten der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock in einer symbolischen Aktion den Stacheldraht an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn. DDR-Bürger, die in Ungarn Urlaub machten, nutzten damals die Gelegenheit, über Österreich nach Westdeutschland zu gelangen. Ungarn hatte durch das entschlossene Auftreten seiner Politiker entscheidenden Anteil an der politischen Wende von 1989 in den ehemaligen Ostblockstaaten und damit auch an der friedlichen Revolution in der DDR, die den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete.
Mit der demokratischen Vorreiterrolle ist es nun vorbei. Dieser Tage hat die neue, rechtsgerichtete ungarische Regierung mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament begonnen, die freiheitliche Demokratie zu demontieren, um die angeblich chaotische Nachwende-Demokratie durch ein „System der nationalen Zusammenarbeit“ zu ersetzen. Nachdem bereits die Kontrollbefugnis des Verfassungsgerichts eingeschränkt wurde, hat die ungarische Regierung jetzt durch neue Gesetze und Verfassungsänderungen die Pressefreiheit abgeschafft.
Das neue Gesetz bietet der Regierung die Möglichkeit, nach eigenem Belieben alle Medien und das Internet durch die neu geschaffenen Medienbehörde NMHH zu kontrollieren. Sollte diese künftig in der Berichterstattung etwas entdecken, das sie als Verstoß gegen allgemeines Interesse oder gegen öffentliche Sitten betrachtet, kann die Behörde Geldstrafen verhängen.
Die Behörde verfügt dabei über sehr großen Ermessensspielraum. Denn wie in Diktaturen üblich, ist nicht genau definiert, was als „allgemeines Interesse“ gilt. Die leitenden Mitarbeiter der Behörde sind ausnahmslos Mitglieder der regierenden Fidesz-Partie, die Vorsitzende der Behörde wurde vom Regierungschef auf neun Jahre ernannt. Mit der Zweidrittelmehrheit wurde die Macht der neuen Behörde sogar in der Verfassung verankert. Es drohen drastische Strafen – bei Print- und Onlinemedien können es umgerechnet bis zu 90.000 Euro sein, bei Rundfunksendern bis zu 700.000, zahlbar in bar und sofort. Richtervorbehalte sind nicht vorgesehen.
Die ungarische Regierung nimmt sogar für sich in Anspruch, dass die neuen Gesetze in irgendeiner Form auch in anderen Staaten der EU bereits im Einsatz oder in Vorbereitung sind und scheut sich nicht, die EU-Pläne zur Verhinderung von Kindesmissbrauch (EU-Internetsperren) und die EU-Richtlinie zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung als Grundlage ihres Handelns zu nennen. Besser kann man die Missbrauchsmöglichkeiten solcher Richtlinien durch undemokratische Regierungen nicht beweisen.
Die Freiheit des Einzelnen – dazu gehört insbesondere auch die Pressefreiheit – ist ein Recht, das wir uns hart erkämpfen mussten, und wir wissen, dass dieser Kampf immer wieder geführt werden muss. In Ungarn scheint er fürs erste verloren. Aber wir dürfen nicht dulden, dass ein diktatorisch geführtes Land auch noch die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt – turnusmäßig fällt diese Ehre Ungarn ab Januar 2011 für ein halbes Jahr zu.
Werte EU-Kommission, wenn die EU-Verträge ernst genommen werden sollen, dann sind hier Maßnahmen gegen die ungarische Regierung zu ergreifen. Wenn Ungarn sich zu einer Diktatur wandeln möchte, hat es in der EU nichts verloren. Handeln Sie – auch wenn es diesmal nicht ums Geld geht.
Herzlichst,
Ihr JeanLuc7